Foto: Gesichtslose Schule?. Schulklasse mit Lehrerin (Josephine Mayer) in der deutschsprachigen Erstaufführung "Gesunde Beziehungen" am Theater Paderborn © Christoph Meinschäfer
Text:Jens Fischer, am 19. März 2018
Punktgenau und sachlich inszeniert Intendantin Katharina Kreuzhage am Theater Paderborn die deutschsprachige Erstaufführung über die Affäre einer jungen Lehrerin mit einem Schüler
Heikle Zeiten. Sex steht mal wieder unter Generalverdacht. Die Möglichkeit vertrauensvoll gelebter Intimität wird grundsätzlich angezweifelt. Geht es nicht immer nur um Ausnutzung von Machtverhältnissen, um Manipulation oder gleich um Vergewaltigung? Als wären die Spielplaner des Theaters Paderborn prophetisch begabt, haben sie schon vor einem Jahr das #MeToo-Thema vorausgeahnt, ein relevantes Stück in den Premierenreigen aufgenommen und triumphieren nun brandaktuell mit der deutschsprachigen Erstaufführung von Evan Placeys „Gesunde Beziehungen“ („Consensual“). Ein höhnischer und sehnsüchtiger Stücktitel. Geht es doch um das fade eheliche Miteinander einer schwangeren Lehrerin, das plötzlich vor dem Aus steht. Gleichzeitig sind die Festanstellung, die kleinbürgerlichen Lebenslügen sowie das Sorgerecht für die Kinder bedroht. Denn ein ehemaliger Schüler hat die Pädagogin als Triebtäterin angezeigt. Vor sieben Jahren habe sie seine Unsicherheit und Unerfahrenheit ausgenutzt und ihn zum Sex genötigt, so die Anschuldigung. Keine gesunde Beziehung. Sie bedient das von der schwarzen Romantik gefärbte Bild des Weiblichen – das wehrlose Jünglinge ins Verderben lockt. Das Well Made Play untersucht den Fall nun wie ein Krimi. Nicht wer, sondern wie war es wirklich? Alles frei erfunden – als Racheakt? Ein Hilfeschrei? Kam es zu einvernehmlichem Beischlaf? Liegt Missbrauch minderjähriger Schutzbefohlener vor? Spielt Pädophilie eine Rolle?
Der Boden des ungeschönten Beton-Keller-Studios ist rot ausgelegt und eine ebenso gefärbte, wörtlich interpretierte Schiebeblende gibt abwechselnd die Szenen auf der rechten und linken Bühnenhälfte frei (Bühne: Ariane Scherpf). Um sinnlichen Ablenkungen vorzubeugen, inszeniert Katharina Kreuzhage wie üblich: erkenntniskühl und punktgenau. Sie abstrahiert. Alle Darsteller, bis auf eine altjüngferlich prüde Pädagogin, sehen aus wie debile Frankenstein-Monster – da sie entindividualisiert verborgen sind unter Ganzkopfmasken, die nur Augenschlitze und Mundöffnungen aufweisen, sodass jede Art von Mimik unmöglich ist. Also wird alle Konzentration auf die mit kraftvoller Vitalität herausgeschleuderten Worte und die Körperreste gelenkt, die aber nicht so beredt wirken. In ihren prollig schäbigen Alltags- und Schuluniform-Kostümen (Matthias Strahm) bewegt sich das Ensemble immer wieder ruckartig – wie Marionetten. Puppen sind es – geradezu Sexpuppen. Also das, was jeder in jedem anderen sieht. Nicht mehr als mögliche Objekte zur Triebabfuhr.
Diese starke, groteske Setzung funktioniert Comic-komödiantisch in den Klassenzimmerszenen. Pubertätsmonster denken da nur an das eine. Wenn die Lehrerin, die daheim gern Filmchen mit ejakulierenden Jungs anschaut, eine Powerpointpräsentation vorbereitet, geht der Ping-Pong-Dialog so: „Soll ich ihnen beim Reinstecken helfen, Miss?“ – „Voll widerlich.“ – „Rhys, hast du am Computer rumgespielt?“ – „Der spielt bloß an sich selbst rum.“ – „Echt krass.“ Überdeutlich wird die im Lehrerzimmer behauptete These illustriert, gerade der Sexualkundeunterricht sei ein Kriegsgebiet. „Also ist Sex eine Bombe?“ „Nein, die Schüler sind welche. Brandheiß gewichste Zündschnüre und pornogetränktes Nitroglyzerin, die jeden Moment in die Luft fliegen können und dich mitnehmen.“ Trotzdem gäbe es das bestens recherchierte, pointiert geschriebene, moralinfrei konstruierte Stück her, das hypersexualisierte Personal als menschliche Figuren den Empathiefähigkeiten der Zuschauer anzubieten – statt im Puppenmodus durch den einschlägigen Jargon zu jagen. Und so die Fragen des Stücks im Vorüberhetzen lediglich abzuhaken. Woran ist zu merken, dass einen jemand liebt? Dass er mit Sex einverstanden ist? Was gehört zu einer guten Beziehung? Wie findet man den Mut, wo die geschützten Spielwiesen auf dem Weg zur sexuellen Selbstbestimmung? Ab welchem Alter sollen Menschen Sex haben und frei darüber entscheiden? Wenn Lehrer ihre Schüler ernst nehmen, sich auf sie einlassen, wo ist dann die Grenze? Was ist schief gelaufen, wenn die Ehefrau lieber Pornos guckt als mit ihrem Gatten zu schlafen? Wo hört die Vorsicht auf, wo beginnt der Wahn – wenn Annäherungen geschlechtsreifer Menschen als Vorbereitung sexueller Gewaltausübung gedeutet werden? All das wäre eine eigene Inszenierung wert.
Andererseits funktioniert Kreuzhages Konzept vom Ende her gesehen: bestens. Nachdem die Hauptfiguren ihre Erinnerungen an die schicksalhafte Nacht immer wieder neu zurechtgebogen haben, damit das eigene Verhalten der Unschuldsvermutung entspricht, wird nun sehr behutsam gezeigt, wie es wirklich war. Auf dass Vorurteile durcheinandergeschüttelt werden. Die Darsteller entledigen sich jedenfalls ihrer Masken. Und sofort beginnen auch die Körper nachdrücklich zu sprechen. Josephine Mayer als 22-jährige Lehrerin Diane, gerade mal wieder einsam angetrunken heimkommend, und Tim Tölke als 15-jähriger Schüler Freddie, gerade von seinem schlagwütigen Trinkervater geflohen, suchen einander in gieriger Scheu. Diane nutzt die Situation, um ihrer Faszination für Freddies Körper und seine kindlich ungelenke Art tatkräftig Ausdruck zu verleihen und setzt gezielt die Puzzlesteine einer erfolgreichen Verführung zusammen. Missbraucht ihre Erfahrung. Während Freddie die Lehrerin, seine Onanierfantasie, zum realen Beischlaf heiß macht, den versprochenen Coitus interruptus aber verweigert. Ihr Vertrauen missbraucht. Beide kommen dabei kurz um den Verstand, aber nicht zu sich selbst. Nicht zueinander. Und nie mehr voneinander los. Schamvoll in Schuld verquickt. Einmal Sex, zwei Machtspiele. Wer hier Opfer ist? Beide sind Täter. Nichts ist einfach, alles heikel komplex. Ein Appell an die Achtsamkeit. Atemberaubend genau ist das gespielt.