Foto: Szene aus "Europeras 1&2" am Staatstheater Braunschweig © Thomas M. Jauk
Text:Andreas Berger, am 25. November 2017
Isabel Ostermann inszeniert John Cages „Europeras 1 & 2“ in Braunschweig am Staatstheater.
Die Oper im demokratischen Zeitalter? Kein Dirigent mehr, die Sänger suchen sich ihre Arien selber aus, und die Bühnenarbeiter vollführen ihre Aufgaben vor aller Augen, statt ein fertiges Bild zu zaubern. John Cages’ „Europeras 1&2“, 1987 im Auftrag der Oper Frankfurt entstanden, bringt ein Stück Demokratie in den traditionellen Opernbetrieb. Scheint es, denn auch hier regieren Götter, aber ohne Taktstock: Der computergenerierte Zufall und die mathematische Reihe bestimmen unbeeinflussbar und damit so demokratisch wie ungerecht die Auftritte aller Mitwirkenden. Je sieben Arien soll jeder Sänger singen und sieben davon unabhängige Aktionen ausführen in den präzise 90 Minuten von „Europera1“ und fünf in den 45 Minuten von „Europera2“.
Wann sie fällig sind, bestimmt der Computer, der jedem Sänger erst kurz vor der Vorstellung den Einsatzplan auswirft. In gleicher Weise bestimmt er, wann die Instrumentisten welche Partiturfragmente spielen und wann welche Bühnenbildfragmente, Kulissenteile, Dias, Lichtstimmungen und eine Toncollage aus Arien der europäischen Operngeschichte bewegt und eingespielt werden.
Für Cage war das einerseits eine Hommage an die 200-jährige Geschichte der Oper, die eben eine europäische war. So hatte sie auch das amerikanische Kulturleben geprägt, und der Amerikaner Cage schickte sie zerlegt und neu gemischt wieder nach Europa zurück. Zugleich war dieser multiplizierte Brechtsche V-Effekt, der lineare Handlung, Leidenschaft und Illusion aushebelte, eine große Infragestellung jener europäischen Operntradition. Die Illusionsmaschine Oper wird entzaubert, da nichts mehr zusammenpasst und alle Einzelteile kenntlich werden. Aber es kann auch neuer Zauber entstehen, weil sich Teile neu zusammenfinden, gegenseitig anders beleuchten und die Zuschauer anregen, neue Geschichten dazu zu erfinden.
Zu sehen gibt es viel bei der jüngsten Neuinszenierung des Werks am Staatstheater Braunschweig. Zu hören auch. Bühnenarbeiter setzen andauernd neue Bühnenbildteile auf die 64 Spielfelder des Ji-Gong-Orakels, das den Boden belegt. Nach Einsatzplan wird verschoben, abgeräumt, neu besetzt. Ein Pappmachée-Schaf ist dabei, ein Riesen-Strauß, ein Schiffssteuerrad, eine Telefonkabine, eine Gondel. Hänger zeigen Fotos alter Inszenierungen und Noten, Tempelteile zu „Aida“, Wieland Wagners weinenden Tristan-Phallus, die „Figaro“-Partitur.
Manche Teile können Braunschweiger Zuschauer aus alten Inszenierungen wiedererkennen wie die Giraffe aus Schanz/Raabes „Der Afrikaner“. Der Schauspieler Mattias Schamberger versucht sie zu füttern und steckt ihr die Zeitung nachher von hinten in den – es passiert so manches. Da singt Rigoletto im Müllcontainer, und Carmen fährt das abgeschlagene Haupt des Jochanaan im Kinderwagen spazieren.
Die Sänger stecken in typischen Opernkostümen wie Papagenos Vogelkleid, der Walküren Brünne mit geflügeltem Helm oder Cio-Cio Sans Kimono. Und sie singen ihre Arien, ohne Begleitinstrument, dafür meist gleichzeitig und jeder aus verschiedenen Opern, unabhängig vom Kostüm und ihrem Handeln. Eine tolle Konzentrationsleistung. Denn im Graben spielen die Musiker ihrerseits nur Partiturfragmente, aber gänzlich andere und jeder verschiedene. Klingt gar nicht mal schlecht, gerade wenn man nicht versucht, hier ein Siegfried-Motiv und da einen Mozart-Lauf zu erkennen.
Dasselbe bei den Arien: Welche Figaro-Passage hat der Giovanni-Typ da gerade am Wickel, während Wotan die Register-Arie des Leporello singt, die Königin der Nacht aber den Musette-Walzer aus Puccinis „La Bohème“? Abschalten, auf den Gesamtklang achten, die Verdichtung und dann wieder Reduktion.
Leider bleibt dieses Gipfeltreffen der emblematischsten Figuren, Musik- und Kulissenfragmente aus europäischen Opern im Wortsinne wahllos, denn Cages Vorgaben und die Berechnungen des Computers bestimmen die Abfolge von Arien und Kulissenbewegungen. Es darf eben nicht Cio-Cio San etwas länger bei Wotan verweilen, wenn ihr sein Gesang zu Herzen geht, und mit einer Arie antworten, die ihrer Regung entspricht, oder Papageno mit Don Giovanni anbandeln, nur weil ihm der Sänger gefällt. Nein, es regiert die Europeras-Uhr, husch-husch zur nächsten vorgeschriebenen Aktion. Cages Opernrevolution unterliegt dem Minutentakt. Insofern ist seine Zerlegung des alten Opernrepertoires durchaus keine Befreiung. Hier wird nur neu gemischt, Freiheit hat nur der Zuschauer, der sich so allerlei dabei denken kann.
Braunschweigs Operndirektorin Isabel Ostermann hat da als Regisseurin wenig Spielraum, sorgt aber für eine magische Anmutung auf dem Spielfeld, alles so ein bisschen verrückt wie bei Alice im Wunderland. Das zieht sich allerdings schon über 90 Minuten ganz schön hin, weil eben keine Begegnungen und Höhepunkte getimed werden können, und dann kommen ja noch mal 45, in denen allerdings die Figurenkonzentration auf der Bühne höher wird. Ob man sich da nicht doch, wie bei allen anderen Inszenierungen, mehr Freiheit nehmen müsste, um Spannung zu schaffen?
Im Ensemble hat das Projekt so viel Anklang gefunden, dass auch die Tänzer und Schauspieler mitmachen wollten. Sie scheinen in ihren Aktionen etwas mehr improvisieren zu dürfen. Jedenfalls greift Tänzer Jonathan Bringert, nachdem er genüsslich mit einem Kaktus gekuschelt hat, dann mit seinen Streicheleinheiten doch auf die umstehenden Sänger über. In Richtung solcher Begegnungen und neu entstehender Handlungen hätte man die Inszenierung weitertreiben sollen.
So hat Braunschweig jetzt einen werktreuen Klassiker der Moderne auf dem Spielplan, von den Sängern, Musikern, Schauspielern, Tänzern und Technikern hochmotiviert umgesetzt.