Weiß, die Farbe der Opfer. Nina Stemme als Brünnhilde in Stefan Herheims Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin

Der Weltenbrand: ein Tischfeuerwerk

Richard Wagner: Götterdämmerung

Theater:Deutsche Oper Berlin, Premiere:17.10.2021Regie:Stefan HerheimMusikalische Leitung:Sir Donald Runnicles

Es ist dem Dazwischengrätschen der Pandemie geschuldet, dass Stefan Herheim den Schluss seiner „Ring“-Deutung an der Deutschen Oper Berlin jetzt noch vor dem „Siegfried“ präsentierte. Und es ist eine enorme logistische Leistung, die personalintensive „Götterdämmerung“ (ohne Abstandseinschränkungen auf der Bühne) in diesen Zeiten im ausverkauften Haus vor einem gesundheitsüberprüften Publikum zu präsentieren, das sich zu einem verblüffend relevanten Teil auch während der Vorstellung freiwillig maskierte. Mit durchgängigem Maskenzwang wären die sechseinhalb Bruttostunden wohl kaum massenkompatibel. So konnte man sich aber, wenn man wollte, zumindest auf das szenische Tischfeuerwerk einlassen, das Herheim immer abfackelt. Und man konnte obendrein über erstaunliche Gesangsleistungen staunen.

 

Das Mordkomplott als Liederabend

Freilich auch darüber, dass Herheim sich in der „Götterdämmerung“ zwar wieder mit Hingabe auf die Binnenstruktur einlässt und diese, auf jede einzelne Szene bezogen, tief auslotet und in Aktion umsetzt, aber den Brückenschlag in die Gegenwart vermeidet. Dass das Parkett-Foyer der Deutschen Oper für das Bühnenbild zur Inspirationsquelle wurde, kann dafür ja kaum einstehen. Diese Analogie steht eher für den immer wieder zelebrierten Wechsel von Binnen- und Außenperspektive auf das Geschehen. Dass hier mitunter der Drang zur Pointe der Konsistenz keine Chance lässt, wird zum Beispiel offensichtlich, wenn Hagen, Brünnhilde und Gunther Siegfrieds Tod beschließen. Der Form nach ist das ein Liederabend mit Klavierbegleitung und vor Opernpublikum auf der Bühne. Was schon ziemlich seltsam anmutet.   
 
Natürlich zieht der Regisseur, der zusammen mit Silke Bauer auch das Bühnenbild verantwortet, alle Register seiner bewährten, aber auch nicht mehr so ganz taufrischen Wundertütenphantasie und hantiert offensiv mit selbst erfundenen oder kreativ zitierten methodischen und metaphorischen Leitmotiven. Es gibt sogar Cliffhanger wie bei Serien: immer ein Bild am Aktende, das auf die Fortsetzung verweist, und mit dem es dann jeweils auch  weitergeht. Oder der Konzertflügel als Platzhalter für die Musik im Allgemeinen, aus der sich gleichsam alles entwickelt – aber auch als Vehikel für konkrete Auf- und Abritte, die, selbst im Wiederholungsfalle, noch Eindruck machen; oder als Felsen-Liebesnest, als Sarg für Siegfried und als finaler Scheiterhaufen, ja, selbst als Instrument (was hier aber zu einer regelrecht albernen Nutzungsart wird).

 

Wo die weißen Tücher wehen

Die (über-)strapazierten Koffermassen sind jetzt zum Felsmassiv geworden, das sichtbar wird, wenn die Holzverkleidung des Parkett-Foyers beiseite geschoben oder durchlässig wird. Was wirklich nervt, ist der extensive Umgang mit den wehenden weißen Tüchern, die für alles mögliche stehen. Eine klare Bedeutung erhällt ihre Verwendung, wenn etwa bei Brünnhildes Heimführung durch Gunther alle Frauen in der ersten Reihe von so einem Tuch überdeckt werden und zu Boden gehen, während die erzwungene Braut auf einem solchen Tuch wie ein erlegtes Wild von Gunther herein geschleift wird. Die Frau(en) als Opfer männlicher Willkür. Mit einer geradezu kindlich wirkenden Lust fügt Herheim seiner vermeintlich analysierenden Als-Ob-Ästhetik Bilder von ausufernder Opulenz hinzu. Wer schon immer mal wissen wollte, wie man sich die Schilderung der Existenzkrise in Walhall, mit der Waltraute ihre Schwerster bekehren will, konkret vorzustellen hat, der kommt hier auf seine Kosten: Walhall ist hier zwar keine prangende Burg, aber ein veritabler Felsen aus Koffergestein, auf dem Wotan im Zentrum sitzt (wie Jupiter im Olymp) und von Walküren sowie diversen Helden umgeben ist – alle an ihrer Wagner-zeitgenössisch „authentischen“ Kostümierung, inklusive der gefiederten Helme, zweifelsfrei zu erkennen. Hier verausgabt sich die Kostümbildnerin Uta Heiseke – die Vorliebe für weiße Unterwäsche bei den Statisten dagegen ist wohl eher eine Masche, die man hinnehmen muss. Wotan in ferner Höhe, das macht nicht nur auf Hagen Eindruck. Aber Brünnhildes Ansprechen ihres Vaters als Regieanweisung zu nehmen und Wotan während ihres Monologs höchstpersönlich an den Konzertflügel zu setzten, das geht dann doch übers Ziel hinaus.

 

Der überforderte Strippenzieher

Brünnhilde (der die großartige Nina Stemme vokalen Glanz verleiht und die sich mit Intelligenz zum Finale hin in ihrer Wirkungsmacht noch steigert) gewinnt im Widerstand gegen Gunther und Siegfried und dann mit wachsendem Durchblick auch als Bühnencharakter an Format. Siegfried und Gunther dringen beide zu ihr auf den Felsen vor und bezwingen sie gemeinsam – beide mit der gleichen Clownsmaske (bzw. zwei Exemplaren des Tarnhelms). Sie wechseln sich Zeile für Zeile auch beim Gesang ab. Nur wenn es auf die pure Kraft ankommt, die Brünnhilde tatsächlich bezwingen kann, dann muss der getarnte Siegfried ran. Dem unwissentlichen Betrüger Siegfried billigt Herheim immerhin zu, dass er beim Abnehmen der Tarnmaske von einem Schock umgehauen wird, den er sich allerdings nicht erklären kann.

In psychologischer Hinsicht am interessantesten gerät Hagen. Der ist auch hier, wie immer, der finstere Strippenzieher. Doch diesmal wird er von dieser Rolle überfordert. Nicht der Sänger Gidon Saks, der ging trotz angekündigter Indisposition an die Grenzen seiner vokalen Möglichkeiten. Und auch darstellerisch war Saks herausragend, denn sein Hagen übernimmt sich in seiner Rolle als Intrigant und Exekutor der Rache an Siegfried völlig. Zunächst fädelt er mit stets überlegener Geste, ja sogar Eleganz die Intrige ein und manipuliert alle. Nicht nur Gunther, Gutrune und Siegfried, sondern diesmal sogar Waltraute, die vor ihrem Soloauftritt bei ihrer Schwester in der ersten Reihe im Parkett sitzt und erst von Hagen, nicht etwa durch ihre eigene Einsicht, zu ihrem Verzweiflungsbesuch bei Brünnhilde animiert wird. Aber als der Siegfried dann tatsächlich erstechen kann, wird er von seiner Aktion sichtbar traumarisiert und steigert sich vor aller Augen in einen Blutrausch. Er enthauptet Siegfrieds Leiche und legt sich Rüstung, Helm und Waffen des toten Helden an – bricht aber unter dieser angemaßten Größe sichtbar (psychisch) zusammen. Auch wenn er sich zunächst bei der Heimkehr mit der Leiche im Schlepptau in eine Pose wirft, die an Wilhelm II. erinnert.

 

Der letzte Kehraus

Am Ende verschwindet alles in der Versenkung. Das Feuer imaginieren erst die Statisten und dann gewaltige Scheinwerferbatterien von oben. Die Zuschauer werden mit dem Blick auf eine leere Bühne entlassen, auf der eine einsame Reinigungskraft die Reste zusammenfegt, während man sich fragt: Die Reste wovon nun eigentlich?

Musikalisch imponiert neben Nina Stemme vor allem der junge Siegfried Clay Hilley. Seiner Spiellust kann keine parodierende Stichelei der Kostümierung etwas anhaben, seiner stimmlichen Frische auch der lange Abend nichts, im Gegenteil: Im dritten Aufzug legt er nochmal zu und wirkt gänzlich befreit – die helle Freude! Die erwecken aber auch Thomas Lehman als Gunther und Aile Assozonyi als Gutrune sowie die gegen alle Bebilderungswut sich souverän durchsetztende Okka von der Damerau als Waltraute. Die von Jeremy Bines einstudierten Chöre beeindrucken nicht nur mit ihrer Wucht, sie finden sich auch mit Lust in ihre Doppelrolle als Akteur und distanzierter Beobachter. Donald Runnicles setzt auf die ja nie lange unterbrochene Wagnerkompetenz des Orchesters der Deutschen Oper, schafft Momente atemloser Spannung neben den Passagen des Auftrumpfens.

Jubel in der Deutschen Oper für die Protagonisten und die Musiker im Graben. Bei Herheim und seinem Team gab es auch Buhs. Wagner eben.