Der Welt-Katastrophe auf der Spur

Robert Harris: Vaterland

Theater:Staatsschauspiel Dresden, Premiere:23.02.2023Regie:Claudia Bauer

Als eine Art Stinkbombe war das Buch ja gedacht, als es erschien – den deliranten Dauerjubel über die neue deutsche Einheit sollte es stören, in dem sich Deutschland nach dem Mauerfall immer noch sonnte drei Jahre. Und Fußball-Weltmeister waren „wir“ auch noch geworden … breiter war die deutsche Brust wohl nie nach Ende des Krieges, den Nazi-Deutschland über Europa und die Weltgebracht hatte. Wer wollte denn damals noch erinnert werden an die widerwärtigsten Zutaten dieser Welt-Katastrophe „made in Germany“?

Weltgeschichte, umgeschrieben

Für die Erinnerungsarbeit, wie er sie verstand, musste der englische Autor Robert Harris gleich die ganze Weltgeschichte umschreiben – in „Vaterland“ hat Deutschland den Krieg gewonnen und den europäischen Teil der alten Sowjetunion annektiert, als Atommacht bietet es dem letztverbliebenen Gegner von früher Paroli, den USA; und 1964, Hitler wird gerade 75, steht darum der Besuch des amerikanischen Präsidenten Kennedy in der Reichshauptstadt Berlin kurz bevor, des Vaters von John F. wohlgemerkt, dessen Nähe zum Nationalsozialismus ja auch in der Wirklichkeit notorisch war. Im Vorfeld dieses Besuches lässt die deutsche Staatssicherheit Zeitzeugen verschwinden, zum Beispiel all die Staatssekretäre und Mit-Entscheider, die 1942 an der sogenannten „Wannsee-Konferenz“ teilnahmen, die im Auftrag von Reinhard Heydrich die „Endlösung der Judenfrage“ diskutierte.

Das ist der Kern der Fabel. Die Welt hat hier nach dem deutschen Sieg im Krieg überhaupt nichts vom Holocaust erfahren, die Juden Europas sind einfach nur „verschwunden“ und die Mörder haben die eigenen Taten erfolgreich vertuscht; darum würden die Dokumente der Konferenz in der Villa am Wannsee das Ansehen der Weltmacht Deutschland zerstören helfen – Xaver März, ein Berliner Kripo-Ermittler, entdeckt per Zufall die Spur der Dokumente und lässt sie mit Hilfe einer amerikanischen Journalistin in die neutrale Schweiz transportieren, damit sie von dort aus veröffentlicht werden. März stirbt auf dem Gelände, wo einst das Konzentrationslager von Auschwitz stand und nur noch Mauerreste unter dem grünen Rasen das erinnern, was hier einst geschah. Einen dieser Steine hält März zum Schluss in der Hand, bevor der letzte Schuss fällt – er weiß nun, was die Wahrheit war.

Verstörende Leichtigkeit

Die Story ist auch dreißig Jahre danach noch grandios, und zu ahnen ist auch jetzt mit dem Blick auf Claudia Bauers Versuch am Staatsschaupiel Dresden mit dem fulminanten Stoff, wieso die Uraufführung durch Dramaturgin Stefanie Carp und Regisseur Frank Castorf zur Jahrtausendwende in Hamburg so spektakulär gelang – weil die krude Konstruktion, die viele für geschmacklos hielten, extrem wirkungsvoll wurde im Bemühen um Erinnerung um jeden Preis. Das Team um Claudia Bauer jetzt, mit den dramaturgischen Mitstreitern Lüder Wilcke und Jörg Bochow, geht anders vor – und erreicht nur bedingt und mit viel Mühe das Ziel, wie es geschrieben steht beim Autor Harris.

Das liegt vor allem an der ironischen Heiterkeit, die den ersten Teil durchzieht; und es liegt auch an einer der Grundentscheidungen, die Bauers Team getroffen hat: die zentralen Rollen im Spiel nämlich gegengeschlechtlich zu besetzen. Das schafft vor allem Distanz – den Ermittler März spielt Nadja Stübiger (zuletzt sehr spektakulär in Frank Castorfs Dresdner Kraftakt mit „Wallenstein“!), den Partner (und Verräter) Max Jäger legt Betty Freudenberg als dauerschlotternden Angsthasen an, der erst auf der letzten Fahrt, nach Auschwitz eben, enttarnt wird. Als amerikanische Journalistin agiert derweil Yassin Trabelsi. Und als hochtoupierte Stadtbild-Erklärerin, die zu Beginn und später noch einmal Jugendliche und Touristen, halb maskiert wie oft bei Bauer, routiniert durch die „Große Halle“ führt (den Zentral-Bau von Albert Speers Architektur-Utopie, die in den Plänen der Nazis und auch bei Harris „Germania“ heißt), nimmt sich Ahmad Mesgarha viel komödiantischen Raum. Schöne Öko-Pointe für und wie von heute: In dieser Halle für 180.000 Menschen gestaltet die Masse des Publikums das eigene Klima selbst – denn der gemeinsame Atem lässt Wolken wachsen unter der Kuppel, aus denen es dann sanft (und sehr nachhaltig) herunter regnet … behauptet jedenfalls Autor Harris.

Lange bleibt Bauers Inszenierung in dieser absonderlichen, sehr verstörenden Leichtigkeit gefangen. Denn jeder und jede weiß ja, worum es eigentlich geht. Viktor Tremmel als Ober-Nazi und Chef-Killer Globocnik österreichelt hemmungslos, Marin Blülle hält als Züricher Bankier lautstark mit. Der US-Präsident Kennedy (auch Mesgarha) blödelt aus dem Fernseher, und nur am Rande kommt eine (später zentrale) Figur in Spiel – die des im Staatsapparat strippenziehenden Kripo-Chefs Arthur Nebe, die Tilo Krügel vom erkrankten Torsten Ranft übernahm. Diesen Nebe (wie auch Odilo Globocnik) gab’s ja wirklich; aber Harris irrte sich wohl, als er Nebe vor 30 Jahren als getarnten Widerstandskämpfer zeichnete – der Kripo-Direktor gilt heute als strammer Mit-Täter, auch wenn er noch kurz vor Kriegsende 1945 in Plötzensee hingerichtet wurde.

Die Ermittler-Energie des aufrechten Xaver März wird getrieben von Fotos der jüdischen Familie Weiss, die er in der eigenen Wohnung unter den Tapeten entdeckt – Familie Weiss hat einst gewohnt, wo er jetzt zu Hause ist. Nebe wird derweil als einer von denen gezeigt, die schon immer alles gewusst haben, auch von der „Wannsee-Konferenz“ und alles über den Holocaust – bei Harris sieht er die allerletzte Chance zum nachgetragenen Widerstand.

Dem Schrecken auf der Spur

Aber so war’s wohl nicht. Und nicht alle Figuren sind schon bei Harris wirklich zu Ende profiliert; die Oberflächlichkeit, die jetzt zuweilen auch bei Bauer vorherrscht, ist im Roman angelegt. Aber dann blättern März und die Journalistin Maguire in den Wannsee-Akten – und fürchterlich ist der Schrecken, so grausig, wie er immer war und immer bleiben wird. Roman wie Bühnenstück nehmen das Menschheits-Verbrechen selbst ins Visier – und zugleich monologisiert die Journalistin kurz vor Schluss lange über die (unbeanwortbare) Frage, wie das Unerträgliche, wie das Unfassbare dargestellt werden kann. So lässt Bauer das eigene Problem gleich mit beschreiben. Vielleicht ist ja gar kein anderer Umgang möglich mit diesem Material, vielleicht ist auch die Erinnerung an den Versuch von Castorf und Carp total verklärt im Blick von heute aus.

Andreas Auerbach lässt einen großen Kubus auf der Drehbühne rotieren; in dessen Innerem formt die Live-Kamera die März-Wohnung und andere Innenräume. Sogar ein kleiner Wald steht in diesem großen Kasten. Darüber hinaus wird Dekor sehr sparsam eingesetzt, Bauer will all die oft verwirrenden und abdriftenden Bewegungen in der Fabel aus den Schauspielerinnen und Schauspielern entwickeln, und deren Power ist in der Tat enorm. Darum ist dieser Versuch mit „Vaterland“ auch überhaupt nicht gescheitert – er bleibt dem letzten Schrecken der Geschichte auf der Spur, verirrt sich aber manchmal auf dem Weg.

Wie der Roman ja auch – aber er liefert dem Theater (anders als andere) immerhin einen wirklich großen Entwurf, der jede Mühe lohnt.