Foto: Maurus Gauthier in „Gods and Dogs” von Jirí Kylián © Ralf Mohr
Text:Ulrike Kolter, am 12. Februar 2022
Es ist schade, wenn ein dreiteiliger Ballettabend, der mit zwei so grandiosen Werken der jüngeren Tanzgeschichte beginnt, im dritten Teil eher schwach endet – und zwar nicht in der Umsetzung einer brillierenden Compagnie, sondern im choreographischen Material. Das für den Gesamtabend titelgebende „Wir sagen uns Dunkles“ von Hannovers Ballettdirektor Marco Goecke fällt nämlich im Spannungsbogen am Ende deutlich ab, doch dazu später.
Um mit den ersten beiden Teilen zu beginnen: „Gods and Dogs“ von Jirí Kylián (UA 2008) und „Skew-Whiff” vom NDT-Choreographen-Duo Sol León / Paul Lightfoot (UA 1996) sind als Gesamtkunstwerke von Choreographie, Bühne und Musikwahl herausragende Stücke, die es verdienen, im Repertoire zu bestehen – und die vom Staatsballett Hannover auf technisch höchstem Niveau dargeboten werden. Hier muss so ausdrücklich gelobt werden, weil es nach zwei Jahren Pandemie keine Selbstverständlichkeit ist, eine Ballett-Compagnie in solcher Bestform zu präsentieren. Insofern ist die Stückwahl trefflich, stehen doch die drei Schöpfer:innen in prägender NDT-Tradition und fordern diese physische Kondition auch ein: Jirí Kylián hat das Nederlands Dans Theatre als langjähriger Direktor geprägt wie kein Zweiter, Paul Lightfoot war noch bis 2020 künstlerischer Leiter dort, während seine künstlerische Partnerin Sol Léon als Beraterin der Compagnie fungierte.
Deutlich wird in den Stücken das klassische Fundament des NDT ebenso wie verbindende Elemente zu zeitgenössischem Tanz: anspruchsvolle Hebungen und Drehungen stehen neben humoristischen und absurd-tragischen Szenen, tanztheatralem Flüstern, Röcheln und Grimassenschneiden. „Wir sagen uns Dunkles“ verhandelt in allen drei Teilen die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit, hinterfragt unsere Konventionen von normal oder verrückt – was immer beides auch sein mag.
Zum Niederknien: „Gods and Dogs“
In seinem Kammerballett „Gods and Dogs“ lässt Kylián vier Paare zu einem elektroakustischen Klangteppich nach Beethovens erstem Streichquartett agieren: ein Nähe suchen und plötzliches Verschwinden ist das; mal wird eine Tänzerin zum Schatten eines Tänzers, verschwindet krabbelnd hinter der schwarzen Gaze oder im düsteren Orchestergraben, während zwei andere synchron seitlinks über den Boden robben oder in eng umschlungenen Pas de Deux faszinieren.
Licht- und Schatten-Spiele sind perfekt ausgelotet, wechseln temporeich zu den Elektrobeats. Im Hintergrund senkt sich bald eine bühnenbreite, silberne Lametta-Wand herab, deren leichtes Schwingen den Zuschauenden in Trance versetzt. Gekrönt wird der erste Part mit einem Solo von Maurus Gauthier (der nicht verwandt ist mit Eric Gauthier): Ein Wahnsinniger ist er, wischt sich die Verzweiflungsgeste aus dem Gesicht, um sie seitwärts wegzuwerfen. Doch Unglück lässt sich nicht abstreifen wie Kleidung, und Gauthier fällt einfach um (siehe Foto).
Zum Brüllen: „Skew-Whiff“
Nach kurzer Pause ist „Skew-Whiff“ von Sol León / Paul Lightfoot kaum 20 Minuten lang, bedeutet soviel wie „windschief“ und löst im Publikum zurecht Begeisterungsstürme aus:
Zu Gioachino Rossinis Ouvertüre zu „La Gazza Ladra” („Die diebische Elster“) laufen drei Tänzer und eine Tänzerin zu humoristischer Höchstform auf und exerzieren allerlei Gangarten im Quatschmodus durch. Da zieht man sich den Kopf am Haarschopf im Kreis, Abläufe werden in Zeitlupe durchexerziert, während stets einer oder eine dazwischenfunkt und die Synchronizität durchbricht. Weil sich das Tempo von Bockspringen, Po-Kreisen und Umfallen ins Unermessliche steigert, liegen final alle vier am Boden, flinke Rolle rückwärts noch und Winken ins Publik. Geschafft. Bravissimo!
Zu gewollt: „Wir sagen uns Dunkles“
Nach diesem gemütserheiternden Intermezzo folgt, live begleitet von Mitgliedern des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover, eine Eigenkreation von Ballettdirektor Marco Goecke, der für „Wir sagen uns Dunkles“ auch Bühne (ein dunkles Nichts) und Kostüme (Hosen mit Paillettenfedern hinten) verantwortet. Seine 2017 uraufgeführte, halbstündige Kreation beginnt mit einem Song der britischen Band Placebo: „You are one of God‘s mistakes“ tönt es da, und sich als Mensch so zu fühlen, ist zweifelsfrei elend. Doch das statische Solo eines Tänzers dazu wirkt gewollt, empor gereckte, sich schüttelnde Hände beglaubigen keine Verzweiflung. Es folgen synchrone Ensembles, Franz Schubert und Alfred Schnittke vermischen sich und alles schmeckt fad und künstlich, auch das Ausdrucksvokabular. Goecke zitiert Goecke: seine Trippelschritte, die zuckenden Brustmuskeln und zitternden Hände, die verkrampft nach innen gewölbten Finger. Er ist ein Meister fließender Armbewegungen, keine Frage! Doch hier erschöpft sich diese Kunst, und fast zäh ziehen sich die letzten Soli der Tänzer dahin. Schade um den Schluss, beglückend bis dahin.