„Der Mordfall Halit Yozgat” in Hannover

Der Staat als Mordkomplize

Ben Frost : Der Mordfall Halit Yozgat

Theater:Staatsoper Hannover, Premiere:01.05.2022 (UA)Regie:Ben Frost Musikalische Leitung:Florian Groß

Ein siebenstimmiges Gewirr gesungener und gesprochener Textfragmente, enervierend repetitive Streichersequenzen und ein gnadenlos drängender Trommelpuls – die Uraufführung der Oper des australischen Komponisten Ben Frost in Zusammenarbeit mit dem Arrangeur Petter Ekman an der Staatsoper Hannover ist von der ersten Minute an eine Zumutung. Wie sollte es auch anders sein? „Der Mordfall Halit Yozgat“, den dieses Musiktheater dokumentarisch verarbeitet, macht einen ebenso fassungslos, wie seine von staatlicher Seite verhinderte Aufarbeitung.

Hintergrund: ein NSU-Mord in Kassel

Am 6. April 2006 wurde der 21-jährige Halit Yozgat in einem von seinen türkischen Eltern geführten Internet-Café in Kassel erschossen. Er war das neunte und letzte Todesopfer der von der rechtsextremen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) verübten Mordserie. Neben dem Opfer befanden sich zum Tatzeitpunkt fünf Personen in den drei Räumen des Cafés. Das drehbare Bühnenbild von Lisa Dräßler und Mirella Weingarten bildet dessen räumliche Bedingungen nach. Anfangs noch ein geschlossener Quader, aus dem die Stimmen der sieben Sänger und Schauspieler tönen, lässt Frost, der auch Regie führt, im Zuge der sieben Wiederholungsdurchläufe des Mordgeschehens die Bühnenelemente sukzessive abgetragen, bis der letzte Durchgang auf einer leeren Fläche spielt: Die Hoffnung auf Klärung des Tathergangs durch eine zunehmend bessere Einsicht in die Räume löst sich in einem Schneesturm auf, in dem jede subjektive Verortung der Tatzeugen scheitern muss.

Siebenfache Wiederholungen: ein Parforceritt

Besonders heikel ist das Thema deshalb, weil zum Zeitpunkt des Mordes ein Mitarbeiter des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, Andreas Temme, im Café anwesend war, der als einziger keine Schüsse gehört und auch das tödlich verletzte Opfer nicht gesehen haben will. Die Akten des Verfassungsschutzes, die Temme hätten belasten können, wurden bis 2044 unter Verschluss gestellt, was die unabhängige Forschungsgruppe „Forensic Architecture“ veranlasste, anhand sämtlicher zur Verfügung stehender Daten eine Rekonstruktion des Tathergangs zu erstellen. Diese Gegenrecherche zu den offiziellen Ermittlungen diente Autorin Daniela Danz als Vorlage für ein Libretto, das mit disparate Textfetzen das typische Grundrauschen eines Internet-Cafés zwischen Dating-Portal, Ferngespräch in die türkische Heimat, telefonischem Autokauf und Online-Ego-Shooter erzeugt. Die insgesamt siebenfache Wiederholung des Handlungsablaufs, bei dem die Darstellerinnen und Darsteller jedes Mal die Rollen tauschen, irritiert zunächst, weil Frost die im Programmheft angekündigten Perspektivwechsel auf das Geschehen kaum erkennbar herausarbeitet und der von den zehn Streichern und zwei Schlagzeugern des Niedersächsischen Staatsorchesters unter der Leitung von Florian Groß dargebotene Parforceritt zwischen Heavy Metal und Minimal Music einfach nicht enden will.

In kurzen Pausen tanken die Darsteller während des zweistündigen Abends an Getränketischen auf der Bühne Kraft. Markante Änderungen wecken die betäubte Aufmerksamkeit dann wieder ab dem fünften Durchlauf. Die Musik verstummt, die Gesangsstimmen erheben sich über die dumpfe Geräuschkulisse des Ego-Shooters „Call of Duty“ und zuletzt über das Rauschen und Pfeifen einen Schneesturms, während weiße Flocken und Nebel die Bühne in einen frostigen Nicht-Ort verwandeln. Acht zum Teil schon zuvor in die Szenerie verwobene gesichtslose Figuren in weißen Schneeanzügen steigern das Unbehagen, erinnern an die acht weiteren NSU-Opfer – und an ein eisiges Land, in dem der Staat zum Schutz seiner Behörden die Aufklärung eines rassistisch motivierten Mordes behindert. Auch wenn das starre Konzept der Oper dem Komponisten und Regisseur Ben Frost im ersten Teil noch im Wege steht, gelingt ihm ein Abend, der physisch erschüttert und sich ins Gedächtnis einbrennt. „Der Mordfall Halit Yozgat“ gemahnt uns daran, dass eine geschlossene Gerichtsakte noch lange kein Recht bedeutet. Und sie entfesselt jene Gespenster auf der Bühne und in unseren Köpfen, die nicht Ruhe geben, bis die wahre Geschichte des ihnen angetanen Unrechts nicht mehr verschwiegen wird.