Foto: Peter Lüchinger in der Titelrolle und Tim Lee als Harry in Mike Bartletts „King Charles III.“ an der Bremer Shakespeare Company.
© M.Menke
Text:Anja-Rosa Thöming, am 20. Januar 2017
Im Theatervorraum steht ein Sarg. Geschmückt mit einem schlichten Kranz, davor das gerahmte Foto von Königin Elizabeth II. „Die Königin ist tot, lang lebe der König!“ – der alte Spruch ruft Prinz Charles ins Rampenlicht der Presse, der Politik, der Rollenfindung. Plötzlich und unerwartet sieht sich Charles, noch bevor er gekrönt wurde, in einem Konflikt gefangen, dem er nicht entrinnen kann. Und in dem ihm niemand der anderen Royals helfen kann, geschweige denn „das Volk“. Na und? könnte man mit hochgezogenen Brauen fragen: Wen kümmern die „Konflikte“ einer königlichen Familie heute, zumal eines Königs, der mit 66 plus im besten Rentenalter ist? Dafür ist die yellow press zuständig, die lese ich beim Friseur oder auch nicht — im Theater aber soll man denken, über Unerwartetes lachen oder vor Schrecklichem schaudern. Ist Mike Bartletts Schauspiel „King Charles III“ eine Soap-opera?
Der britische Autor nennt sein Stück „future history play“. Aus der einfachen „Was-wäre-wenn“-Frage — was wäre, wenn die königlichen Eltern Philipp und Elizabeth tot wären und Charles König — zieht er frappierenderweise genügend Stoff und Fallhöhe für ein Drama, das interessiert, bewegt, zum Lachen bringt und nicht zuletzt das Denken flink hält.
Bei der ersten Routine-Unterredung mit dem Premierminister nach dem Begräbnis der Queen wird Charles gebeten routinemäßig ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zu unterzeichnen. Der gründliche und kritische Charles besieht sich das Dokument näher; es soll die Privatsphäre der Menschen besser vor Zudringlichkeiten der Presse schützen und ihre Methoden zivilisieren helfen. Und gerade Charles, der Zeit seines langen Lebens unter den Paparazzi der yellow press zu leiden hatte, verweigert die Unterschrift. Er sieht es als seine Pflicht an, die Pressefreiheit hochzuhalten. Der Premier, ein Labourmann, ist verwundert, geduldig, doch hart in der Sache. Das Gesetz gehe nicht mehr zurück zum Parlament, die Unterschrift Seiner Majestät sei lediglich ein formeller Akt, Routine eben.
Da geht Charles die ganze Hohlheit seiner Existenz auf. Zwar stellt er die Würde und Macht des britischen Parlaments nicht in Frage. Doch sei er „bewusst auf einen Zweck hin großgezogen“ worden, nämlich König zu sein. Aber was bedeutet das? Positiv kann er es nicht formulieren, aber negativ: Nicht eine Puppe, eine „leere Hülle“ will er sein, „die auf Befehle wartet, seelenlos und körperlos“. Der Regierungschef lässt ihn abblitzen: „Das ist Ihre Rolle, das haben Sie gewusst.“ Doch Charles kontert mit der schonungslosen Analyse: „For if my name is given through routine / And not because it represents my view / Then soon I’ll have no name, and nameless I / have not myself.“ („Doch wenn ich meinen Namen aus Routine geb / Und nicht als Zeichen meiner Überzeugung, / Dann hab ich keinen Namen mehr. / Und namenlos hab ich mich selber nicht“.) Dieses ehrenwerte, doch rein subjektive Argument zieht bei den gewählten Politikern selbstverständlich nicht. Charles sitzt in der Falle, an der er selbst mitgebaut hat, weil er das Spiel namens Routine nicht mitspielen will. Man kann ihn bedauern oder belächeln, und der wandelbare Schauspieler Peter Lüchinger ruft oftmals jenes Schmunzeln oder lautes Lachen im Publikum hervor, das einen überkommt, wenn man schwächliche öffentliche Gestalten agieren sieht und froh ist, nicht selbst dort zu stehen. Das sind die Elemente einer Tragikomödie – es gibt die tragischen Momente menschlicher Größe und die komischen Momente menschlicher Schwäche(n).
Was aber machen die anderen? In einem zweiten Handlungsstrang sehen wir Harry, den zweiten Sohn von Charles und Diana, durch ein paralleles Drama stolpern. Auch hier lauert die Gefahr der Seifenoper im Hintergrund, doch gehört Harry – und seine Freundin Jess – zu den kräftigsten Figuren des Stückes, auch gerade darin, wie er mit dem gleichen Ernst wie sein Vater um eine glaubhafte Rolle im Leben ringt. Harry verliebt sich in eine selbstbewusste Kunststudentin, die ihm die Augen öffnet für die absurden Seiten der Monarchie, die ihn um seiner selbst willen liebt und ihm das herrlich freie Leben als „commoner“, als gemeiner Mann, mit der Freude an Döner und Pommes und an lauter schlichten Dingen zeigt. Die Szene, in der Harry die unprätentiöse, naiv- temperamentvolle Jess seinem Vater vorstellt und vor lauter Liebe überfließt, ist gewissermaßen die hellste des Stückes. Camilla wundert sich: Harry rede ja so schön, so leidenschaftlich, „und in Versen“. Wie das Liebespaar innerhalb des Schauspiels, so bilden auch ihre beiden Schauspieler, Theresa Rose und Tim Lee eine wesentliche Ader der Sauerstoffversorgung in der Inszenierung Stefan Ottenis. Dass wir es auch in dieser Nebenhandlung mit einer ziemlichen Fallhöhe zu tun haben, zeigt in gnadenloser Ironie das Schicksal Jessicas, die von der Tabloid-Presse mit Nacktfotos gejagt wird und später von dem politisch „korrekten“ Paar William und Kate von Harry getrennt wird.
Herzogin Kate (forsch und präsent: Petra-Janina Schultz) ist aus anderem Holze geschnitzt als die idealistische Jess. Pragmatisch ist sie, vom Scheitel bis zur Sohle, sie liebt „ihren Mann“, sie liebt Sätze wie „Da kommt mein Mann — er hat telefoniert.“ Sie ist so modern, so foto- und telegen und so ehrgeizig, dass sie die Journaille in der Hand hat, und William auch (Markus Seuss, mit Hang zum Träumerischen, doch knallhart kronenhörig auch er). Seine anfängliche Loyalität zum Vater gewöhnt sie ihm innerhalb weniger Tage ab. Und sie spricht wie eine Primadonna einen echten Monolog, in dem sie ihre Motivation für ihr berechnendes Handeln darlegt – Macht. Dies scheint allzu vorhersehbar und nicht überzeugend, zumal William und Kate, wie Camilla giftig bemerkt, nur „König und Königin der Klatschkolumnen“ seien. So gelungen die Shakespeare-Nähe in vielen Momenten ist: den Herzog und die Herzogin von Cambridge als Macbeth-Paar light darzustellen, die wie erotisch angezogen auf die Krone starren, hilft diesen heutigen Figuren nicht wirklich.
Eher noch ist der Geist Dianas ein lohnendes Theaterthema, doch hat sich hier die sonst so kreative Shakespeare Company Bremen nicht viel einfallen lassen, um wirkungsvolle Geisterszenen, in Anlehnung an Hamlet oder Macbeth, aufsteigen zu lassen.
Und die Sprache? Rainer Iwersen hat den Blankvers-Duktus von Mike Bartlett ins Deutsche übertragen – eine nicht ganz leichte Aufgabe, wenn man an die vielen Übersetzungsversuche der Shakespeare-Dramen denkt. Erich Fried kommt einem in den Sinn mit seiner im positiven Sinn respektlosen Annäherung an Shakespeares Sprache, etwa in dem Vers „Was bin ich ohne Geist? Ne taube Nuss. / Ich tu’s nicht, weil ich’s will, weil ich es muss.“ Das Original ist tiefgründiger und zugleich präziser: „Without my voice, and spirit, I am dust. / This is not what I want, but what I must.“
Mit einer Anti-Monarchie-Einstellung à la „die spinnen, die Briten“ würde man es sich gegenüber diesem Theaterstück zu einfach machen. Das Stück zeigt uns in einer kanalüberspannenden Lehrstunde, dass das machtlose Königtum irgendwie doch zum englischen Land, zu den Leuten und natürlich zur seiner Geschichte gehört – das problematische Wort der Identität lässt man besser beiseite –, und man es darum ernst nehmen sollte. Zumindest für einen gefüllten Theaterabend lang.