Michaela Schneider, Matthias Wölbitsch und Ensemble.

Der Beweis der Aufführbarkeit

Moritz Eggert: Freax

Theater:Theater Regensburg, Premiere:21.01.2017Autor(in) der Vorlage:Tod Browning: FreaksRegie:Hendrik MüllerMusikalische Leitung:Tom Woods

Das wirklich mutige, das transgressive Element der filmischen Vorlage wurde ausgespart. Und damit wurde auch eines der Probleme, an dem die für 2007 in Bonn unter der Regie von Christoph Schlingensief geplante Uraufführung krankte, ausgeschaltet. Tod Brownings „Freaks“ von 1932 zeigt echte Sideshow-Künstler – ein Kuriositätenkabinett: Menschen mit tatsächlich schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen waren seine Hauptdarsteller: Siamesische Zwillinge, Menschen mit fehlende Gliedmaßen, Darsteller mit Mikrozephalie (also mit zu kleinen Köpfen) und so weiter. Ein Film, der unter die Haut geht und streng zensiert wurde. Regisseur Hendrik Müller jedoch hat Bühnenbild und Konzept von dem kurz vor Probenbeginn erkrankten Jim Lucassen übernommen und den gesamten Rahmen der Erzählung ausgetauscht: Aus der ,Abnormitäten’-Zirkusschow wurde ein Altersheim für teils demente Künstler. Eine Übertragung der ausgegrenzten, körperlich Andersartigen auf ein Altersheim für Musiker auf dem Abstellgleis.

Für Müller und den Intendanten Jens Neundorff von Enzberg, der 2007 in Bonn Schlingensiefs Dramaturg war und nun die zweite Uraufführung am eigenen Haus möglich macht, ist klar: Funktionierendes Musiktheater kann nicht klappen, wenn Nicht-Behinderte so tun, als wären sie Behinderte. Nachsatz beim Pressegespräch: „Und ein Zwergenkönig Alberich wird ja auch nie von einem ,Missgebildeten‘ gespielt.“ Gezeigt wird nun ein Spiel im Spiel. Und so beginnt der Abend mit einer Probe, in der Matthias Wölbitsch mit Lacklederjacke und Falco-Gelfrisur aus dem Publikum heraus den keifenden Regisseur Hilbert Winter spielt. Er ist der Spielleiter in diesem Altersheim.

Moritz Eggerts zitierfreudige, überbordende Musik mit einer Klangwelt, die sich oft zwischen spätem Strawinsky und Bigband-Jazz bewegt, wird tatsächlich perfekt vom Philharmonischen Orchester Regensburg gespielt. Und weil der Orchestergraben für Eggerts Über-Filmmusik zu klein ist, wurde eine Gruppe Schlagwerker in einen anderen Raum gesetzt, die zum Video-Dirigat spielte. Außerdem gab es Einspielungen von vor-aufgezeichneten und verfremdeten Streicherklängen. Und das alles verschmolz zu einem absolut überzeugenden, homogenes Klangbild! Selbst eine rein instrumentale Aufführung von Eggerts Oper – bitte mit dem ebenfalls wundervollen Chor – würde schon den Besuch in Regensburg lohnen! Die Solisten waren aber leider nicht immer so gut hörbar, die meisten Sprechrollen hingegen hatten Mikroports. Und so waren einige sehr präsent und andere gingen regelmäßig unter. Allerdings gab es vier grandios über das Orchester hinweg singende Darsteller: Der wohlklingend runde Tenor Steven Ebel als Direktor der Heilanstalt und intriganter Chef, einer der nur die unendlich lange Papierschlange der Rechenmaschine auf dem Schreibtisch im Auge hat. Matthias Wölbitschs Bariton dagegen war schärfer, genau so aber als Showmoderator Hilbert Winter genau richtig. Egal ob mit Handmikrofon jahrmarktsmäßig moderierend oder ohne singend – der sonst oft im humorvollen Fach Eingesetze war jede Sekunde verständlich und ein wirklich glaubhafter Unsympath.

Zu recht Szenenapplaus bekam Bassbariton Otto Kratzameier für seine Rolle als intersexuelle(r) Dominique im Frauenkleid. Er hatte einige wundervolle Arien über die Zerrissenheit seiner doppelgeschlechtlichen Welt. Eine Partie zwischen prä-pubertärem Countertenor und tief-männlichem Bass. Und Kratzameier war auch störender Teil eines Liebesduetts: Matthias Wölbitsch singt es gemeinsam mit Michaela Schneider, die die Isabella spielt. Eine Krankenschwester und Sängerin, die eiskalt kalkulierend mit dem Showmoderator ein Verhältnis hat und zugleich einen alten Heiminsassen heiratet und diesen töten will, um an sein Geld zu kommen. In dieses Duett mit wundervoll harmonisch verschränkten Stimmen platzt Kratzameiers Dominique hinein und umspielt und durchkreuzt es gesanglich und körperlich. Einer der absoluten musikalischen Höhepunkte des Abends.

Überhaupt ein Abend, der an Höhepunkten und tollen Einfällen nicht arm ist; Schlingensief-Referenzen (zu überprüfen in seinem Film „Fremdverstümmelung“) gibt es reichlich. Es wird fast immer auf der portalfüllenden Drehbühne gespielt, die Räume wechseln von Szene zu Szene: Die Hochzeitsgesellschaft wie beim letzten Abendmahl, ein Speisesaal mit Fenster zum Garten, ein Direktorenzimmer und ein gefliester Raum mit Badewanne, der an Kühlräume im Krankenhaus erinnert. Alles in einem pastelligen Mintgrün gehalten. Kostüme, Licht und Handlung sind dafür um so quietschiger – inklusive dreier Sexszenen in Kleidung.

Als die Intrige auffliegt, weil Isabella sich nicht ernsthaft auf ihren älteren Mann einlässt, verwandelt sich die Freak- bzw. Heiminsassen-Belegschaft in einen wütenden Mob, der mit Sägen, Sicheln und Schlagstöcken über die Verschwörerin herfällt. Das passiert in Zeitlupe und unter Stroboskop-Licht. Immer wieder erinnert die Szene an Gemälde von Bauernaufständen. Ein interessantes barock-kitschiges Statistentrio aus Jesus (mit rot leuchtender Dornenkrone), Mutter Maria und Maria Magdalena (beide mit weiß leuchtendem Heiligenschein) ist regelmäßig zu sehen. Erst zum Schluss greifen sie auch in die Handlung ein: Sie schieben die verstümmelte, nun arm- und beinlose Michaela Schneider alias Isabella aus dem Raum heraus: Eingewickelt in Laken und auf ein Rollbrett platziert – wie man sonst eine Waschmaschine transportiert.

Eine spannende Inszenierung mit nahtloser, schlüssiger Regie. Zum Teil toll agierende Sänger, die auch als Schauspieler absolut glaubhaft sind. Dazu ein bestens eingesungener Chor und ein erweitertes Orchester, das unter Tom Woods hörbar gut gelaunt und sehr exakt bei der Sache ist. Man könnte sagen: Ein perfekt gearbeitetes Rundumpaket! – Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass mit der Regensburger szenischen Uraufführung von „Freax“ unbedingt gezeigt werden sollte, dass Eggerts Oper eben nicht ,unaufführbar‘ ist. Und so fehlen mir doch ein paar Ecken und Kanten, Brüchiges – oder vielleicht habe ich auch nur auf einen körperlich oder geistig beeinträchtigten Schauspieler gewartet, an dessen Bühnenpräsenz ich mir bei der kritischen Reflexion die Zähne ausbeißen würde.