Szene aus "Tote Seelen" in Stuttgart

Der Aufsteiger als Clown

Nikolai Gogol: Tote Seelen

Theater:Schauspiel Stuttgart, Premiere:11.06.2016Regie:Sebastian Baumgarten

Tschitschikow sehnt sich als Aufsteiger, obschon Sohn eines verarmten Adligen, nach gesellschaftlicher Anerkennung. Er ist ein Stehaufmännchen, der nach jeder Niederlage in einer neuen Provinzhauptstadt einen neuen Versuch macht, zu Geld und Ruhm zu kommen. Er hat eine geniale Idee, er reist zu den Gutsbesitzern des Distrikts und will ihnen die toten Seelen der verstorbenen Leibeigenen abkaufen, die bis zur nächsten Revision auf den Listen stehen bleiben. Nikolai Gogol hat in seinem 1842 erschienenen Roman „Tote Seelen“ ein grotesk zugespitztes Bild einer korrupten Gesellschaft beschrieben, in der sich feudale und kapitalistische Züge auf komische Weise kreuzen. Am Staatstheater Stuttgart hat nun Sebastian Baumgarten den Roman auf die Bühne gewuchtet, die von einem großen Totenkopf dominiert wird, auf dessen Augenhöhlungen Bilder projiziert und in denen gespielt werden kann. Vor dem Abbild eines Zahnskeletts hat Thilo Reuther (Bühnenbild) ein Käfiggitter aufgestellt. Auf die vorne schräg gestellten Seitenwände kann man u.a. lesen „…man beurteile unser Volk nicht nach dem, was es ist, sondern nach dem, was es sein will.“

Es ist wie immer bei Baumgarten: die Drehbühne, die immer neue Spielorte und -möglichkeiten schafft, projizierte Bilder, Filme und Texte und das Spiel mit verschiedenen Zeitebenen. Da hängt denn schon einmal ein Putinbild in einem Gutsherrenzimmer. Oder es wird in der russischen Provinz berlinert. Gleichzeitig werden wie in einem Fernsehstudio zu den Sätzen akustisch zustimmende oder ablehnende Geräuschkulissen eingeblendet. Kurz: das Theater als Theater verstärkt und vorgeführt. Wenn die sechs Schauspieler und zwei Schauspielerinnen in schwarzen Lederimitaten (Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes) auftreten, werden nicht nur Handlungsfragmente referiert, sondern sie kommentieren zugleich ihr Spiel. Wenn sie im Dunkel der Bühne sprechen oder lesen, leuchten sie aus dem Mundraum. Und ebenso wird mit den Geschlechtsrollen frei gespielt, Frauen spielen Männer und umgekehrt.

Trotz der Reizüberflutung bleibt die eigentliche Geschichte klar: die Ankunft von Tschitschikow, die freundliche Aufnahme, die Besuche bei den verschiedenen Gutsherren, das Zusammenbrauen des Skandals, die Gerüchteküche, sowie die Verhaftung und die Ausweisung, die aus den Fragmenten des zweites Buches – „Tote Seelen“ war von Gogol ursprünglich als Trilogie geplant – übernommen wurden. Dass Gogol für seine Figurenentwicklung keine Psychologie braucht, kommt Baumgarten entgegen. Vor allen Dingen aber auch Wolfgang Michalek, der die Titelfigur mit großer Pappnase und mit Bart, der im Laufe des Spiels verschwindet, mit vollem Einsatz spielt. Er agiert gar nicht devot, durchschaut aber auch seine Umwelt nicht wirklich. Er spielt eine Art von proletarisch wirkenden Aufsteiger, der sich zum Ende hin in einen Rotclown verwandelt, bzw. von der Gesellschaft dazu gemacht wird. So wird das Groteske bei Gogol in die symbolische Geste getrieben, die den Transfer in die heutige Zeit ermöglicht.

Wie schon betont, Baumgarten greift nicht in die Grundstrukturen der Vorlage ein, ergänzt diese nur  durch Passagen aus den „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“. Nur eine Figur wird umdefiniert, die Gouverneurs Tochter, die von Svenja Liesau nicht als junges Mädchen vorgeführt wird, das gerade aus dem Pensionat zurück gekehrt ist, sondern als Schauspielelevin, die in Deutschland Karriere machen möchte. Ein stark aufspielendes Ensemble, in dem außer Michalek alle mehrere Rollen zu pointieren haben, macht den Erfolg des Abends aus.