Markus Scheumann in der Halle Zweckel

Den inneren Terror finden

Nach Edgar Allan Poe: Der Untergang des Hauses Usher

Theater:Maschinenhalle Zeche Zweckel, Ruhrtriennale, Premiere:14.08.2021 (UA)Regie:Barbara Frey

Zwei Pianisten (Tommy Hojasa und Josh Sneesby) beginnen das Spiel mit anfangs schrillen und ganz langsam tiefer und angenehmer klingenden Akkorden, synchron und wie ein Uhrwerk, über eine Viertelstunde lang. Die Klänge im kargen Raum lassen an Herzschläge denken oder an gnadenloses Hämmern, können Warnung sein oder einfach eine ruhige Einführung in die Welt des Grauens. „Der Untergang des Hauses Usher“ nach Edgar Allan Poe markiert die erste große Premiere der Ruhrtriennale in der Inszenierung der neuen Intendantin Barbara Frey. Diese Inszenierung schafft in der pandemiebedingt zu zwei Dritteln besetzten Halle über insgesamt zwei Stunden ein großartig komponiertes und gespieltes Bühnenkunstwerk aus Raum, Musik, Text und Schauspiel. Die neue Intendantin, so scheint es nach diesem Start, kann dem Festival, das seit bald 20 Jahren ungewohnte Schauplätze für theatrale Zwischenformen suchte, neue Impulse geben.
 
Neben den beiden Flügeln sind sonst nur ein paar hingeworfene Bücher, Stühle und ein paar Schlaginstrumente in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck auf der Bühne (von Martin Zehetgruber) drapiert – vor der beeindruckenden, quer über die Bühne in den Boden eingelassenen uralten Maschine, einem gigantischen Triebwerk. Hier erscheinen nun in ängstlicher Gemeinschaft sechs in dunkle Anzüge gekleidete Darstellerinnen und Darsteller. Gemeinsam entwickeln sie den Text vom Grauen im Hause Usher. „Schrecken“ – im englischen, teilweise mitgesprochenen Original: „Terror“ – ist ein immer wiederkehrendes Schlüsselwort der Erzählung. Ein Jugendfreund besucht den übersensiblen und kranken Roderik Usher, ist schon von der Landschaft bei der Anreise, dann vom Garten samt Teich und schließlich vom alten Haus mit einem kaum wahrnehmbaren Riss durch die Wand erschüttert. Und wird noch Schlimmeres erleben.

Markus Scheumann war schon in seinen Kölner Anfangsjahren ein Spezialist für schmerzlich gebrochene und damit auch Angst einflößende Charaktere, er ist der ideale Poe-Darsteller. Die Rollen sind hier allerdings keineswegs klar verteilt, es wechseln die Sprecher von erzählerischer Beschreibung, kurzen Dialogen oder Monologen. Dabei geht es nicht immer um Usher, sondern auch – den Terror im Hause Usher noch vertiefend und erweiternd – um Figuren aus anderen Poe-Texten, in denen etwa ein grausiger Doppelmord in der Rue Morgue beschrieben wird. Teils lesen Scheumann oder Michael Maertens zur Entlastung der im Hause Usher beunruhigten zwei Männer zu ihrer Ablenkung aus Büchern vor, teils erscheinen nach musikalischen Zwischenspielen und abrupten Lichtwechseln die Figuren: Debbie Korley beschreibt eine schaurig-schöne Feeninsel, Katharina Lorenz und Jan Bülow spielen ein irres androgynes Paar und berichten dabei – als weiterer Textbaustein –  von Berenice und ihrem Cousin, den die Zähne der geliebten zu früh Bestatteten zum Liebes-Gewalt-Rausch bringen, Annamária Láng und Markus Scheumann verbinden sich als wunderbar intim-ängstliches Paar unter einem großen schwarzen Mantel zur Rekapitulation der Situation des lebendig Begrabenseins.

Zwillinge und verdoppelte Ichs sind ein Leitmotiv bei Poe und Frey; dies spiegelt sich auch in der Mehrsprachigkeit, wenn nicht nur das englische Original immer wieder zu hören ist, sondern auch Annamária Lángs ungarische Muttersprache, dieses fremde und besonders melancholisch anmutende Idiom. Wie sie mit Markus Scheumann Gefühle und Sprache teilt und tauscht, ist einer der zahlreichen Höhepunkte einer Inszenierung, die großes Schauspiel mit überragender Komposition – in Musik, Kleidung (Esther Geremus) Dramaturgie (Andreas Karlaganis, aber natürlich auch die Gesamtregie) oder Lichtstimmungen (Rainer Küng) – verbindet.

Das Haus Usher findet so in einer weitgehend unveränderten Industriekathedrale mit fast mediterraner Architektur und mythisch wirkender Maschine den idealen Ort. Eine wichtige Veränderung erfährt sie noch durch die jeweils halb vernagelten Fenster, durch die zunehmend helles Licht von außen nach innen dringt. (Ob der Raum in den Wiener Fassungen des koproduzierenden Burgtheaters ähnlich organisch mitspielen kann, erscheint mir fraglich.) Überhaupt ist dieses streng durchkomponierte Spiel doch keineswegs nur eine Verführung zur Depression. Besonders Michael Maertens ringt dem Blick in menschliche Ängste und grausame Phantasien auch leichtere Momente ab, wenn er etwa das Lob des analytischen Verstands zu Beginn der „Affäre in der Rue Morgue“ zitiert und dabei von einem grotesken Damenchor mit Gehhilfe begleitet wird.

Am Ende erscheint, so hören wir, im Sturm die für tot gehaltene Zwillingsschwester Ushers und holt ihren Bruder mit in den Tod, während Jan Bülow als verrückter Cousin der Berenice Timber Timbres „Run from me, darling“ mit weißer E-Gitarre performt. Das Haus, so erfahren wir vom fliehenden Freund, stürzt schließlich ein. Und auf der Bühne halten acht Männer des zuvor immer wieder leise zu vernehmenden Ruhrkohle-Chors Einzug, als sanfte Doppelgänger der insgesamt acht Bühnenakteure, die sich nun furchtsam vor dem Publikum zusammengedrängt halten. Die finalen Töne eines zögernden chorischen Liebeslieds sind verglichen mit den dissonanten ersten Akkorden dann vielleicht doch ein kleines Hoffnungszeichen – obwohl die inhaltlichen Fakten ja schwer gegen Optimismus sprechen.

Zur Ironie der grandiosen Uraufführung mag gehören, dass der Ministerpräsident des Landes und Kanzlerkandidat Armin Laschet im Publikum weilte. Letztlich malen Frey und Team ein differenziertes Bild des Grauens. Sie veranstalten keine Gruselshow, sondern beleuchten menschliche Abgründe, intensiv, aber mit einer gewissen, vielleicht „gesunden“ künstlerischen Distanz. Sie verweisen auf die Risse menschlicher Existenz, wie sie derzeit besonders klar zum Vorschein kommen. Vielleicht hat der Dissonanzen bislang eher abgeneigte Landesvater ja dieses Menschenbild zur Kenntnis genommen.