Foto: Jana Alexia Rödiger, Sarah Siri Lee König und Patrick O. Beck in "Die Verlorenen" am Theater Konstanz © Ilja Mess/Theater Konstanz
Text:Manfred Jahnke, am 25. September 2021
Die Stücke von Ewald Palmetshofer sind Sprachkunstwerke. Die rhythmisch strukturierten Sprechakte sind von einer starken Metaphorik geprägt, die vom Bewusstsein der handelnden Figuren zeugt. In „Die Verlorenen“ (2019 am Münchener Residenztheater uraufgeführt) verbindet sich diese Sprachmächtigkeit mit einer klischiert erscheinenden Handlung: Clara, „die Verlorene“, versucht sich nach der Scheidung selbst im Abseits neu zu finden. Sie wird dabei von ihrem Ex-Mann und dessen neuer Frau „heimgesucht“, die Florentin, den Sohn, bringen. Dieser steht kurz vor dem Schulverweis wegen eines Videos im Smartphone und soll aus der Schusslinie genommen werden. Konterkariert wird diese Geschichte von einem „heimischen“ Trio, das sich in einer kleinen Tankstelle trifft, die auch als Café oder Disco fungiert.
Parabelhafter Raum
In der Zweitinszenierung des Stücks am Theater Konstanz treibt Franziska Autzen dem Stück den möglichen Naturalismus aus. Ute Radler hat dafür einen Raum geschaffen, der nur aus einer Drehbühne besteht. Der Boden ist als Erinnerung an die Natur mit Borkenstücken übersät. Auf der linken Seite teils verborgen, steht ein hoher Kühlschrank. Wenn es eng für Klara wird, werden 15 Lampen-“Hütchen“ herabgefahren, zwei Mal sogar sehr nahe über den Akteuren. Ansonsten herrschen im Licht die dunklen Töne vor.
Die Spieler treten barfuß, die Spielerinnen in Strümpfen auf, die Kostüme heutig, aber nicht modisch. Nach ihrer Begegnung mit Kevin, der das leere Haus „besetzt“ hatte, agiert Klara nur noch in Unterwäsche und einem Reifrock-Petticoat. Verfremdend wirkt darüber hinaus, dass der über Mikroport gesprochene Ton in seiner technischen Machbarkeit kenntlich bleibt: Alle visuellen und akustischen Mittel, die Autzen und Radler nutzen, verweisen auf den Parabelcharakter der Dramaturgie von Palmetshofer. In der Geschichte von Clara spiegelt sich die Krise einer Gesellschaft, die nicht mehr den Sinn ihrer Existenz fühlt und erlebt.
Großartiges Ensemble
Das szenische Ambiente erzwingt die Konzentration des Publikums auf die Darstellerinnen und Darsteller. Jana Alexia Rödiger als Clara wirkt müde in sich gekehrt. Eine, die nicht mehr weiß, was sie will und doch voller Gier nach Leben ist. Eine, die ausbrechen möchte, ohne zu wissen, wie sie es anfangen soll. Rödiger spielt die Nuancen zwischen Sich-Ducken und Aufbegehren groß aus.
Patrick O. Beck führt Harald, den Ex-Mann, als prollhaften Typ vor, der nur an sich selbst denkt und die Sinn-Suche seiner Ex überhaupt nicht verstehen kann. Er ist ein Materialist, der alles Störende, darunter den gemeinsamen Sohn Florentin, aus seiner Welt zu verbannen versucht. Seine vor sich selbst behauptete Dominanz zeigt sich auch im Verhältnis zu Svenja, seiner jetzigen Ehefrau. Sarah Siri Lee König in rotem Kleid spielt diese als leicht verhuschtes Wesen auf der einen Seite, auf der anderen jedoch sehr bestimmt. Überzeugend wirkt Miguel Jachmann als Kevin, der das, was sich in der Familie von Clara ereignet, als „Fremder“ aus der Distanz beobachtet, ein Aussteiger – ob freiwillig oder erzwungen bleibt unklar –, der im Abseits von der Gesellschaft seine Rolle zu finden versucht.
„Das Tier ist auch kein besserer Mensch“, brummt der „alte Wolf“. Zusammen mit dem „Mann mit der Trichterbrust“, der vor ein paar Tagen einen Hirsch überfahren hat, und der „Frau mit dem krummen Rücken“ bildet er das Trio von der Tankstelle. Trotz aller Philosophie findet auch das immer wieder komische Töne und scheint in der Hirsch-Metapher zu sich selbst zu kommen. Odo Jergitsch gibt den alten Wolf trocken lakonische Töne, wie auch Sebastian Haase und Sabine Martin.
Starke Geschichte
Toll, wie die Drei das machen und zugleich deutlich machen, dass auch sie nur Zuschauer eines Geschehens sind, dass sie nicht kalt lässt, zu dem sie aber zugleich eine Distanz haben. Wie in der griechischen Tragödie wendet Palmetshofer den Botenbericht an: Das Furchtbare am Ende – der Tod der Clara: aufgespießt von einem Zaunpfahl – wird nur erzählt und der Fantasie der Zuschauer überlassen. Und Florentin, der nach der Scheidung verstummt, lässt alles an sich abperlen? Er tritt nicht in persona auf, sondern als Fernseher.
„Die Verlorenen“ in Konstanz sind ein harter Brocken für das Publikum. Autzen und das Ensemble machen auf einem hohen Niveau tolles Schauspielertheater mit einer Geschichte, die sichtlich das Publikum emotional trifft.