Das System Castorf

Charles Gounod: Faust

Theater:Oper Stuttgart, Premiere:30.10.2016Regie:Frank CastorfMusikalische Leitung:Marc Soustrot

Einen der schönsten Auftritte dieser bejubelten Premiere zur Saisoneröffnung an der Oper Stuttgart erlebte man beim Schlussapplaus. Frank Castorf oblag nach zur Zufriedenheit vollbrachter Regietat die Aufgabe, sich dem Publikum zu zeigen. Als sich aber ein paar spärliche Buhs partout nicht gegen die massiven Bravo-Salven der begeisterten Zuschauer durchsetzen konnten, da wirkte der Provokateur aus Passion doch ein bisschen düpiert. Unter tätiger Beihilfe aus dem Ensemble rang er sich noch eine pflichtschuldige Verbeugung ab – und taperte muffelig wieder zurück hinters Portal. Woran man sieht: Provokation ist keine Dauerlösung bis zum Pensionsalter. Das System Castorf ist inzwischen auch in der Oper publikumskompatibel, zumindest in Stuttgart, wo zeitgenössische Regiehandschriften seit der Ära Klaus Zehelein den Erlebnisstandard des Opernpublikums definieren. Und bei Gounods in Deutschland noch immer unter Trivialitätsverdacht stehender „Faust“-Veroperung hat’s auch prächtig funktioniert.

Wobei im Begriff System eine etwas ambivalente Wahrheit steckt. Gemeinsam mit seinem kongenialen Bühnenbildner Aleksandar Denic hat Castorf schon für seinen Bayreuther „Ring“ ein Setting entwickelt, das, einmal installiert, bei den verschiedensten Opern nach den gleichen Spielregeln funktionstüchtig ist. Denic baut ein Bühnenbild, das durch das Zusammenmontieren historisch anachronistischer, thematisch aber sinnstiftender Versatzstücke eine hermeneutische Meta-Erzählung installiert. In diese schon materiell vielschichtige Szenographie werden zudem Video-Projektionsflächen, meist als frei hängende Tücher, implementiert. Darauf sieht man Filmmaterial zum geschichtsphilosophischen Kontext der Handlung, daneben aber auch sehr viele während der Aufführung live gefilmte Sequenzen des Geschehens auf und hinter der Bühne, die Castorfs teils extrem elaborierter, über Strecken dann aber auch wurschtig erlahmender Personenführung per Close-Up und Bildschnitt eine enorm animierende Dimension hinzufügen. Dazu kommt Castorfs typischer Proll-Realismus, der in den Verhaltensmustern der Depravierten das Dysfunktionale der Gesellschaft dingfest macht. So entsteht ein vieldimensionales Kontinuum, dessen Bilder- und Assoziationsreichtum den Zuschauer gezielt überfordert – und los kann’s gehen…

Der Kontext, den Denic zur Interpretation von Gounods „Faust“ aufgespannt hat, ist die Geschichte Frankreichs und seiner Hauptstatt Paris vom Zweiten Kaiserreich (1852 bis 1870) bis zur Staatskrise der Vierten französischen Republik vor dem Hintergrund des Algerienkrieges (1958). Darin liegt viel Plausibilität. 1859 wurde am Théâtre Lyrique die Erstfassung (mit gesprochenen Dialogen) des „Faust“ uraufgeführt. Damals beschäftigten sich Dichter wie Baudelaire, Rimbaud oder Zola bereits mit den gesellschaftlichen Zerfallsphänomenen ihrer Epoche. Vieles von dem, was sie zur Kenntlichkeit brachten, spielte noch beim Scheitern der Vierten Republik eine Rolle: Die Warenförmigkeit aller Ideale, die kapitalistische Unterwanderung der Gesellschaftsformen von Monarchie bis Demokratie, selbst die Wurzeln der Kolonialkriege in Algerien und Indochina reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. All das ist in Gounods „Faust“ spürbar. Das faustische Streben richtet sich auf Sinnlichkeit und Rausch, die bei Goethe hinzukommenden Aspekte gesellschaftlichen Engagements sind ausgeblendet, Marguerites Verführung setzt bei ihrer Empfänglichkeit für Lust und Luxus an, in den Soldatenchören steckt eine wüste Düsternis – und so bringt der ach so böse Teufel hier nur zum Vorschein, was in den Protagonisten dieser Gesellschaft längst angelegt ist.

Denic hat eine Abbreviatur von 100 Jahren Paris auf seine Drehbühne gebaut. Die Metrostation Stalingrad liegt in dieser düster verdichteten Welt gleich neben Notre-Dame, dazwischen eingezwängt das Café Or Noir, auf dessen Rückseite haust in einer aufgelassenen Boucherie Margarethe, Mephistopheles hat sein Reich in einer Art Pavillon, wo in einem Terrarium auch seine alte Freundin, die Schlange, haust. Adriana Braga Peretzkis teils prollige, teils artifiziell historisierende Kostüme ergänzen dieses Kontinuum passend, zeigen uns Kokotten und konsumgeile Kleinbürger, kaiserliche Soldaten und Algerienkrieger, Mephisto als aasigen Nadelstreifen-Entertainer und den verjüngten Faust als Macho mit Netzhemd unterm Jackett. Wieder findet Castorf die Wahrheit über die Gesellschaft dort, wo die Menschen heruntergekommen sind und keine Contenance mehr die Rituale des Überlebenskampfes kaschieren. Und die brillante Videoregie von Martin Andersson belebt und strukturiert diesen Gedankenraum durch eine facettenreiche Bildpolyphonie. Die Geschichte von Faust und Margarethe wird so überlagert von einer schier erschlagenden Fülle an Assoziationen, die doch einer großen Linie folgen: zu zeigen, dass Mephisto hier nur deshalb soviel Macht hat, weil die Menschen jenseits aller Ideale nur noch nach Lust, Geld und Macht gieren. Unter diesen großen Deckel passen auch Rimbauds Demokratie-Kritik (etliche Gedichte von ihm werden zu den Orchester-Einleitungen oder -Zwischenspielen rezitiert), Benjamins Analyse des Zusammenhangs von Kapitalismus und Luxus, Zolas Naturalismus…

Ein gewisses Problem ist allerdings, dass dieses Setting, einmal installiert, ziemlich vorhersehbar vor sich hin prozessiert. Man erlebt eine stets kluge und meist unterhaltsame Wimmelvielfalt mit großartigen Einzelszenen – etwa wenn Fausts umständliche Verführung Margarethes durch Mephistos enerviertes Mienenspiel kommentiert wird. Aber eine individuell auf das Werk zugeschnittene Dramaturgie kommt so natürlich nicht zustande. Bei dramaturgisch profilierten Werken wie Wagners „Ring“ macht das auch nichts. Bei Gounods ziemlich locker gefügter „Faust“-Oper aber schon. Indem Castorf etwa Margarethe von Anfang an als Luxuskokotte zeigt und nicht als Bürgermädchen, trifft er zwar einen in der Figur von vorn herein angelegten Charakterzug, nimmt ihr aber auch jede Entwicklungsmöglichkeit. Die Walpurgisnacht im fünften Akt wirkt schon bei Gounod seltsam drangeklebt. Dass sie für den Erzählzusammenhang kaum noch eine Rolle spielt, verrät die Oper unfreiwillig dadurch, dass sie schon in der Kirchenszene eine C-Dur-Erlösung erreicht, die durch das Finale kaum noch zu toppen ist – so dass, als sich bei der Premiere ausgerechnet hier der Vorhang kurz senkte, keineswegs klar war, ob das eine kleine Panne oder eine kluge Pointe war. Dass nährte den Verdacht, dass Castorf solche Hängepartien durch gezielt inszenierten Leerlauf und Repetitionen kenntlich machen wollte: etwa im Finale durch Margarethes Sterben nach Mephistos Todeskuss und müdes Wiederauferstehen danach, nur um sich erneut letale kleine Pillen in den Champagner zu kippen. Aber Leerlauf bleibt Leerlauf – auch im munteren Castorf-Aktionismus.

Musikalisch kann davon keine Rede sein. Marc Soustrot als Gast am Dirigentenpult findet mit dem bestens aufgelegten Orchester einen ganz eigenen Gounod-Sound. Manches spielt er sehr verhalten und verschattet, fast vergrübelt, was zu Castorfs Gedankenregie und Denics schabbelig-düsterer Welt gut passt. Bei Soustrot schwelgt die Musik nur verhalten und funkelt selten, hat aber dafür jenseits jener Inseln des Innehaltens einen packenden dramatischen Zug, der im Gegensatz zur Regie kaum einmal erlahmt. Das Sängerensemble ist in allen Partien großartig. Atalla Ayan gibt dem Titelhelden italienisches Timbre, französische Geschmeidigkeit und große expressive Tragkraft. Adam Palka ist darstellerisch wie vokal ein Mephisto von überragender fesselnd-finsterer Präsenz. Und Mandy Fredrich singt eine ungewohnt lyrische Margarethe – was ihr an perlender Brillanz fehlt, erstattet sie den Zuhörern aber durch expressive Innigkeit reichlich zurück, in milde leuchtendem Timbre, mit großer Geschmeidigkeit, auch in den großen Ensembles stets tragend. Die Hosenrolle des Siebel wird von Castorf erheblich aufgewertet und neu gedeutet: eine zunehmend selbstbewusste, dabei selbstlos liebende Lesbe als Gegenentwurf zu Fausts egoistischer Liebe. Josy Santos vom Stuttgarter Opernstudio beglaubigt das szenisch stark und singt die Partie mit bezaubernd warmem, sinnlich schimmerndem Timbre. Gezim Myshketa ist ein markig finsterer Valentin, Iris Vermillion eine mondän auftrumpfende Marthe, Michael Nagl ein gut profilierter Wagner. Und der von Johannes Knecht einstudierte Chor zeigt, wie immer in Stuttgart, szenisch wie sängerisch eindrucksvolle Statur.

Dass in hier keine himmlische Macht die vom Wege Abgekommene vor der verteufelten Welt retten kann, ist vorhersehbar. Am Ende sitzt sie wieder in jener Kneipe, in der Faust sie zuerst gesehen hatte: Einmal Kokotte, immer Kokotte. Als Erlösung bleibt nur das Gift im Champagnerglas, das sie sinnend betrachtet. Hier aber verhüllt der sich senkende Vorhang ihre Entscheidung endgültig – und wenn sie nicht getrunken hat, dann leidet sie noch heute.