Dann setzt die Musik ein, eine Frau – die Witwe Begbick – liest mit weinerlicher Stimme die erste Szenenanweisung und spricht zunächst auch die Rollen ihrer beiden Begleiter und singt schließlich den ersten Song: „Dann lasst uns hier eine Stadt gründen…“ Das wirkt auf die Zuschauer wie eine Aufforderung zu einem anderen Hören. Und wem es gelingt, die Ohren und den Kopf freizumachen von lange eingeübten Vorurteilen, dem wird schlagartig klar, wie viel religiös überhöhte, ironisierte und doch existenzielle Katerstimmung von vorn herein in diesem Tanz auf dem Vulkan mitklingt, wie sehr Trauer, Verzweiflung und Gottes Zorn von vorn herein in Mahagonny zuhause sind. Diese Sängerdarsteller machen das aber auch großartig. Sie balancieren hinreißend zwischen Parodie und Depression, machen aus jeder Kanzelrede mit Szenenanweisungen und Sprechtexten eine eigene kleine Nummer, springen von da aus wieder in ihre Rollen, extrem präsent, doch ohne je zu chargieren. Und alles penibel nach den Buchstaben des Textes, so dass die Brecht-Erben auch beim besten Willen nichts dagegen haben könnten, wenn sie denn wollten. Das ist ein total überrumpelnder, aber bezwingender Einstig an ein Werk, an dessen vordergründig tingeltangelnder Oberfläche schon so manche Inszenierung wirkungslos abgeglitten ist.
Nur leider – und das ist schon enttäuschend: Nach der Enthemmung durch den katalysierenden Hurrikan wirft Michael v. zur Mühlen seinen eigenen Regieansatz über Bord. Die acht Solo-Trauernden (also Begbick, Dreieinigkeitsmoses, Fatty, Jenny, Jim, Jack, Bill und Joe) verziehen sich in eine für die Zuschauer kaum einsehbare Krypta unter dem Orchester-Podium, werfen sich in grellbunte Lumpenball-Klamotten und brechen dort eine unterirdisch-wilde Lust- und Konsum-Orgie vom Zaun. Dank der live gefilmten und mit vorgefertigten Sequenzen überschnittenen Videos von Vincent Stefan (Konzept) und Iwo Kurze (Operator) können die Zuschauer ihr mühelos folgen, sehen dabei aber wenig, was die Aufmerksamkeit auf Dauer fesseln könnte. Denn da nun die unmittelbare Präsenz der Darsteller weggeblendet ist, da keine konzeptionelle Folgerichtigkeit einem die Episode erschließt und da die Sequenzen thematisch munter auf der Stelle treten, wird die Sache bald langweilig. Als die Akteure wieder erscheinen, nun weiterhin als schräge Konsum-Zombies und nicht mehr als Trauernde, und als sie zur Gerichtsverhandlung eine wilde Fake-Schießerei mit krummläufigen MPs veranstalten, wird die Sache wieder stärker und auf groteske Weise dringlicher. Aber da die Inszenierung sich inzwischen selbst aufgegeben hat, bleibt alles doch eher Showeffekt.
Musikalisch blieb es dagegen ein starker Abend, vor allem dank des tollen Orchesters unter Sprenger, das auf seinem Podium inmitten der Bühne geradezu zum Hauptdarsteller wird, aber auch dank der großartig agierenden Sänger, unter denen Ines Lex als Jenny mit bezaubernden lyrischen Tönen beeindruckte, daneben auch Ralph Ertel mit schlankem, stabilem, nur im hohen Forte etwas eng plärrendem Tenor als Jim Mahoney und Franz Xaver Schlecht mit elegantem dunklem Bariton als Sparbüchsenbill. Vladislav Solodyagin ist ein Alaskawolf-Joe mit beachtlichem Talent zur Komik zwischen Slapstick und Parodie. Svitlana Slyvia als Witwe Begbick, Philipp Werner als Fatty sowie Ki-Hyun Park als Dreieinigkeitsmoses geben ein steil angeschrägtes gangsterkapitalistisches Trio ab.
Am Ende viel Beifall fürs Ensemble und eine heftige Buh-Bravo-Kabbelei fürs Regieteam, entsprechend dem ambivalentem Eindruck, den die Inszenierung hinterließ, entsprechend aber wohl auch einem nach Generation und äußerem Habitus sehr bunt gemischten Premierenpublikum, in den man erfreulich viele junge Leute sah. Das war in Halle keineswegs immer so. Offenbar sorgt das entschieden zeitgenössische, innovative Konzept des neuen Intendanten Florian Lutz so langsam für eine Umschichtung im Parkett. Was ja zu begrüßen wäre, denn Nachwuchs kann die Gattung Oper auch im Zuschauersaal sehr gut gebrauchen.