Foto: Vladislav Sulimsky, Ensemble und Chor in "Pique Dame" am Festspielhaus Baden-Baden © Monika Rittershaus
Text:Eckehard Uhlig, am 10. April 2022
Die Glücksspiel-Monster zählen zu den Ikonen der russischen Nationalkultur – sowohl in der Dichtung als auch auf der Opernbühne. Prokofjews Oper „Der Spieler“ nach Dostojewski und Schostakowitschs „Die Spieler“ nach Gogol gehören dazu. Die Kurstadt Baden-Baden mit dem berühmten Spiel-Casino war ein Sehnsuchtsort einiger der genannten Akteure und ist es heute wieder nicht nur für russische Künstler, die im Festspielhaus ihre Triumphe feiern. Das hier die diesjährigen Osterfestspiele mit Peter Tschaikowskys Oper „Pique Dame“ nach Alexander Puschkins gleichnamiger Novelle eröffneten, in deren Zentrum der abgründige Spieler und russische Offizier Hermann steht, könnte symbolträchtiger kaum sein. Wie inszenieren das Regie-Duo Moshe Leiser und Patrice Caurier zusammen mit Bühnenbildner Christian Fenouillat und Kostümdesigner Agostino Cavalca bei solchen Reminiszenzen das komplexe Werk?
Nachdem das Bläsermotiv der kurzen Introduktion verklungen und mit Orchesterdonner ein abruptes Ende gefunden hat, ist ein hell erleuchteter schmaler Raum mit niedrig abgehängter Decke zu sehen, der sich in ganzer Breite über die Festspielhaus-Bühne erstreckt. In dem bedrückenden Ambiente sitzt Hermann, mit abgerissener Uniformhose und -hemd bekleidet, hinter einem längs zur Bühnenrampe aufgestellten schmalen Tisch. Er ist offensichtlich verzweifelt und trinkt. Bald wird die Szene von Video-Projektionen überblendet. Man sieht ein rustikales Familienbild, das aus dem zaristischen Russland stammen könnte, auch Häuser-Ruinen und zerstörerisch lodernde Flammen.
Gewagte Lesart
Chorisch aktives Volk tritt auf. Ein militärisch uniformierter Kinderchor singt jungenhaft begeistert: „Wir stehen zusammen gegen die Feinde Russlands“. Und fröhliche Kinderfrauen kommentieren: „Unsere prächtigen Soldaten, wie sie den Feinden das Fürchten lehren.“ Natürlich wird auf Russisch gesungen, die in unserer Gegenwart erschreckend wirkenden Zitate entstammen den Bühnen-Obertiteln. Alles soll atmosphärisch auf die eigentliche Handlung einstimmen, in der sich Freunde Hermanns, zuvorderst Graf Tomski, über dessen Verhalten mokieren. Denn Hermann sitzt stets am Karten-Spieltisch der Offiziere, spielt aber selbst nie mit. Später erfährt man den Grund seiner Düsternis: Er ist krank vor Liebe zu einer Frau, die unerreichbar scheint, die der ihm verschlossenen Welt der Reichen und Schönen angehört und mit Fürst Jelezki verlobt ist. Nur ein Weg könnte zu ihr, zu Lisa führen – Reichtum, den sich Hermann am Spieltisch aneignen will.
Das größtenteils von Peter Tschaikowskys Bruder Modest verfasste Libretto transformiert Puschkins realistisches Psychogramm eines scheiternden, im Irrenhaus landenden Spielers in eine dramatische Liebesgeschichte, die sich freilich etwa zur Mitte der Oper in dieser Inszenierung in eine monströse Mordserie verwandelt.
Die Baden-Badener „Pique-Dame“-Fassung fügt eine zweite Transformation hinzu: Lisa ist hier Prostituierte, die sich nicht etwa in aristokratisch-höfischen Gesellschaften verlustiert, sondern im Bordell ihre Schulden abarbeiten muss. Jelezki treibt Sexspiele mit ihr und fesselt sie auf dem Bett ihres Boudoirs. Für Hermann wird sie bald Mittel zum Zweck: Sie gewährt ihm Zugang zu ihrer Großmutter, der alten Gräfin, die angeblich über das Geheimnis dreier gewinnsicherer Spielkarten verfügt. Doch die gespenstisch inszenierte Schattenspiel-Begegnung misslingt, weil die alte Dame zu Tode erschrickt. Schlussendlich geht Lisa aus tragischer Verzweiflung an ihrer Liebe zu Hermann nicht (wie sonst bei Tschaikowsky) in den Freitod und ertrinkt in der Petersburger Newa, sondern wird von Hermann erschlagen und in der Wanne ihres Badezimmers ertränkt.
Das alles spielt sich auf einer zweistöckigen Bühne ab: Im Untergeschoss befinden sich in mehreren Szenen die Spieler-Hölle, wo sich Hermann im letzten Akt erschießt, der Bordell-Salon, in dem sich die Damen in altmodischen Korsagen auf Louis-Quinze-Sesseln räkeln und auch das Intermezzo, ein pastorales Idyll, aufgeführt wird. Mit Schäfchen-Masken ausstaffierte Playboy-Bunnys wagen erotische Tänzchen, für die es laute Buhs aus den Reihen der Theaterbesucher hagelt. Im oberen Bühnen-Stockwerk sind mehrere Räumlichkeiten zu finden, darunter eine Einsamkeits-Zelle für Hermann und Lisas Wirkungsstätte.
Fulminante musikalische Leistung
Am meisten überzeugte die Baden-Badener „Pique Dame“-Premiere mit der fulminanten Wiedergabe der Tschaikowsky-Musik. Die von Kirill Petrenko geleiteten Berliner Philharmoniker bieten die Erzählung der Gefühlsausbrüche, der lyrischen und der mörderischen Momente in höchster Klang-Qualität. Die Dramatik tönt mit geballter Wucht aus dem Orchestergraben, Melodien verdämmern klangselig im Raum.
Tschaikowskis Musikzitate, etwa die Anklänge an Papagenos „Ein Mädchen oder Weibchen“ aus Mozarts „Zauberflöte“ wie auch das wiederholte „Tri Karty“-Leitmotiv, sind meisterlich eingefügt. Das Finale erscheint beim Zuhören wie ein zart-jenseitiges Requiem. Zupackende Energie, souveräne Übersicht, ja regelrechtes Klangfieber zeichneten Petrenkos Dirigat aus. Hinreißend agieren die Chöre (Slowakischer Philharmonischer Chor und Cantus Juvenum). Als Anspielung auf die Baden-Baden-Iffezheimer Pferderennwochen intoniert das mit Strohhüten, Sonnenschirmen und Fächern ausgestattete „Renn-Publikum“ freudig Tschaikowskys „Spaziergänger-Lied“ über den „sonnigen Tag“.
Arsen Soghomonyan, der als Hermann ein enormes Sängerpensum leistet, darf mit seinem zwischen Dramatik und Lyrik changierenden Timbre als tenorales Wunder bezeichnet werden. Elena Stikhinas Lisa, die im Schlussakt im eleganten dunklen Kostüm auftritt, ist vor allem in der Mitternachtsszene eine Idealbesetzung für Tschaikowskys kraftvolles Melos.
Vladislav Sulimsky porträtiert Graf Tomski mit seinem wandlungsreichen, wohlgetönten Bariton als eine selbst von Rausch und Spielleidenschaft gefährdete Figur. Aigul Akhmetshina glänzt mit ihrer nur vom Klavier (Olga Wien) begleiteten „Lieblingsromanze“ in der Rolle von Lisas Freundin Polina. Mit gestalterischer Ausdruckskraft setzt Boris Pinkhasovich seinen Part als Fürst Jelezki um. Und Doris Soffel gibt die alte Gräfin, die sich in ihrer französischen Arie sehnsüchtig an Pariser Glanzzeiten als „Moskauer Venus“ erinnert, mit finsterer Dämonie.
Hermann verliert sein Lebensspiel, weil er nach der richtigen Drei und Sieben im entscheidenden Moment statt einem Ass als dritte Spielkarte die „Pique-Dame“ aufdeckt. Man möchte sich wünschen, dass auch Spieler-Monster auf der politischen Weltenbühne die falsche Karte ziehen.