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Das Leben ein Spiel

Giacomo Puccini: La Bohème

Theater:Theater Bremen, Premiere:26.01.2014Autor(in) der Vorlage:Henri MurgerRegie:Benedikt von PeterMusikalische Leitung:Markus Poschner

Sie ist ja inzwischen ein bisschen in die Jahre gekommen, die Rede von der Oper als „Kraftwerk der Gefühle“. Die allseitige Anything-goes-Toleranz war im Theater nicht überall spannungsfördernd, es schien sich eine Art Energiewende anzubahnen hin zu einem Musiktheater ohne gefährliches Erregungspotential. Doch jetzt hat Benedikt von Peter das Bremer Opernkraftwerk – dort ist er als Operndirektor sozusagen der Heizer vom Dienst – mächtig unter Energie gesetzt. Der Buh- und Bravo-Ausstoß war gewaltig, und solche Erregungsgegensätze erlebt man eigentlich immer nur dann, wenn ein Regisseur nicht bloß willkürlich „provoziert“, sondern mit seiner Provokation wirklich ins Herz des Werkes trifft. Genau das ist in von Peters „La Bohème“-Inszenierung der Fall. Ich habe selten erlebt, dass ein Regisseur ein Werk auf der Oberflächenstruktur so intelligent deskonstruiert – und ihm in der Tiefenstruktur der Bedeutungsebenen so viel bewegenden, emotionalen Gehalt zurückgibt.

Puccinis „La Bohème“ ist eine Künstleroper – das zu erkennen ist bei dem Titel kein Kunststück. Und es ist bei all der Mansardenromatik, dem Weihnachtstrubel und der Sterbensrührseligkeit ebenso wenig ein Kunststück, die vier Künstler zu mögen, mit Mimi zu leiden und dann zufrieden nach Hause zu gehen. Aber wenn man genau in die Musik und die Handlungsmotive hineinspürt, kann einem durchaus der Verdacht kommen, dass dieses Künstlertum erbärmlich, die Liebe depraviert und das Sterben trostlos ist – und dass Puccini, der die Musik immer mehr in selbstreferentielle Zitatschleifen treibt, mit alledem keineswegs restlos einverstanden war. Diese Ungemütlichkeit holt von Peter in seiner auf knappe zwei pausenlose Stunden konzentrierten Interpretation an die Oberfläche. Zu Anfang posieren Rodolfo und seine Kumpane auf Katrin Wittigs zunächst nahezu leerer Bühne wie eitle Selbstdarsteller. Die Kostümbildnerin Geraldine Arnold hat ihnen ein trashiges Kreativproletariats-Outfit von heute verpasst, ihr ganzes Leben zelebrieren sie als eine einzige Performance, eine permanente Kunstorgie mit Farbpanschereien, Luftschlangen-Salven und Kaspereien, und im Nu ist die Bühne zugesudelt mit Pansche, Papier und Kunstmüll. Und das rosa Kleid, das sie zu ihrem Kunstobjekt stilisieren, ist exakt das aus Benedikt von Peters „La traviata“-Inszenierung: Dort hatte die Verabsolutierung der Liebe die Titelheldin in die völlige Einsamkeit geführt. Hier verbannt die Ästhetisierung der Liebe die wirklichen Frauen aus dem Leben der Künstler.

Ihnen wird alles, auch die Begegnung mit Mimi und Musette, selbst der Auftritt des Vermieters Benoit, zum Gegenstand ihrer infantilen Inszenierungen. Mit der dramaturgisch radikalen Folge, dass alle diese Figuren ihre Präsenz auf der Bühne weitgehend einbüßen. Diese Künstler brauchen für ihre Kunst keine wirklichen Menschen – und so singen Mimi und Musette große Teile ihrer Partien aus dem Off (genauer: hinter Gazeschleiern, aus den Beleuchtungslogen am Proszenium), und Colline mimt den Benoit als Knallchargen-Slapstick. Doch so viel hier auch los ist – diese ganze Action wird immer trostloser, belangloser, langweiliger. Dieser Kunst fehlt die Lebenswahrheit – darauf hatte von Peter bereits ganz zu Anfang aufmerksam gemacht, als die Mimi-Sängerin Nadine Lehner wie eine stille Anklage auf der leeren Bühne gestanden hatte und verschwunden war, als die Vier so richtig loslegten. Nur einen werden sie nicht los: den Spielzeugverkäufer Parpignol, den Zoltan Stefko als alten, heruntergekommenen, glatzköpfigen Transvestiten im Tütü gibt: Abbild ihrer eigenen Zukunft, ein Memento Mori auf zwei Beinen für die Künstler, die stets erschrocken innehalten, wenn sein Greisenkichern erklingt.

Sie machen das im Übrigen klasse. Selten hat man auf einer Opernbühne so vitale, genau profilierte, energiegeladene Sängerdarsteller erlebt. Doch als im dritten Akt Mimi im schwarzen Kleid wie ein Geist über die Bühne schleicht, geraten die vier Lebenskünstler aus dem Konzept, als spürten den Hauch des Todes und der Lebensleere. Und wenn dann im vierten Akt diese schwarze Mimi noch einmal auf die Bühne kommt, um die Aufmerksamkeit Rodolfos fleht und beide einander ganz zum Schluss endlich anschauen und Rodolfo in tiefster Seele erschüttert ist – dann ist das ein Moment, so bewegend, wie ich ihn selten auf einer Opernbühne erlebt habe.

Dies wäre nicht möglich ohne das überragende Dirigat des Bremer Generalmusikdirektors Markus Poschner. Poschner und sein vorzügliches Orchester geben dieser Musik eine betörende kammermusikalische Zartheit und lyrische Ausdruckskraft (ein paar Wackler bei den ebenfalls aus dem Off hereinklingenden Chören dürften der Raumsituation geschuldet sein). Und er trägt seine Sänger auf Händen, scheint jederzeit ihre Stärken und Schwächen zu kennen und hilft ihnen über alle Klippen hinweg. Luis Olivares Sandoval ist ein sehr lyrischer Rodolfo, manchmal fehlt seinen Gefühlsausbrüchen das Mühelose. Aber seine Phrasierung, seine Ausdruckskraft und dramatische Präsenz sind bewegend. Raymond Ayers ist ein schlanker, markanter Marcello, Christoph Heinrich ein depressionsgefährdeter Philosoph mit vitaler Stimmkontur; und Patrick Zielke gibt mit jugendlich-wuchtigem Bariton einen Schaunard von so garstiger, fettgefressener Lustigkeit, dass es einen irgendwann nur noch gruselt vor diesem Amüsiermonster.

Marysol Schalit verleiht ihrer Musetta, obwohl niemals auf der Bühne sichtbar, mit interessant herber Brillanz ein einprägsames Profil. Vor allem Nadine Lehner aber gelingt die vokale Beglaubigung ihrer Figur überwältigend. Sie ist allein kraft ihrer Stimme der stets präsente Gegenentwurf der Lebenswahrheit zur Lebensleere auf der Bühne. Damit gibt  sie ein wirklich überwältigendes Mimi-Debüt unter denkbar schwierigen Umständen. Ihr Sopran, vom lyrischen Fach kommend, trägt die Partie vollkommen mühelos, er hat in den ersten Phrasen eine warme, satt fundierten Tiefe, vermag sich zu strahlender Leuchtkraft aufzuschwingen, verfügt jederzeit über alle nötigen Gestaltungsreserven, und am Ende singt sie ein so betörend zartes Piano, dass es einem das Herz rührt.

Am Ende wurden sie alle stürmisch gefeiert – auch von denen, die an diesem Abend ihre schöne heile Bohèmewelt vermisst haben. Am Regieteam aber schieden sich lautstark die Geister. Es war ein großer Opernabend!