Halle: die Company Ballett Rossa in "#Bizarr" in der Sebastian Hannaks Raumbühne BABYLON

Das Grauen der Isolation

Michal Sedlácek: #Bizarr

Theater:Bühnen Halle, Premiere:15.09.2018 (UA)Einstudierung:Michal Sedlácek

Roland Dippel
Bühnen Halle
Michael Sedlácek
Sebastian Hannak
Raumbühne BABYLON
Raumbühne
Ballett Rossa

Die Sprache des Konzept-Teasers befindet sich näher an „Krieg der Sterne“ als bei den „Kraftwerken der Gefühle“. Was folgt auf das Theaterideal mit beglückten Zuschauern und hochgradig anspruchsvollen bis spielerischen Projekten in der gelebten Utopie HETEROPTOPIA der Spielzeit 2016/17, die Theater der Zeit als Buch dokumentierte und für die Sebastian Hannak mit dem Theaterpreis „Der Faust“ ausgezeichnet wurde? Die Erwartungen sind hoch, ja gigantisch.

Sebastian Hannaks neue Raumbühne BABYLON ist ausgewiesen als Schauplatz nach der Katastrophe, nicht (nur) als Forum gelebter Vielfalt wie seine Raumbühne HETEROTOPIA. Auf den ersten Blick wirkt gar nicht so vieles anders als vor zwei Jahren. Denn natürlich ist diese Innenschale durch räumliche Zustände und Schutzbestimmungen der Bühne und des Zuschauerraums im Opernhaus Halle bedingt. Da steht der jetzt noch mehr verrostete Ford aus „Der fliegende Holländer“ auf der Seitenbühne. Es gibt wieder den mehrstöckigen Bau auf der Hinterbühne mit Sitzgruppen, wo der Gedanke an Hefners Pornotopia mit unbegrenzten Aus- und Einblicken ganz nahe ist. Weißer Tanzboden und viele Screens: versteht sich von selbst! Neu sind aber die großen Grünpflanzen aus südlichen Gefilden auf der Parkett-Ebene und die steinernen Ornamente an der Brüstung im Rang. Für diese ließ sich Hannak erkennbar vom Zuschauerraum des Opernhauses Marrakesch inspirieren. Sehr sinnfällig, denn in der nächsten Premiere mit Meyerbeers „L`Africiane“ werden die ethnischen Perspektiven kreativ umgedreht. „#Bizarr!“, „#Bizarr.“ oder „#Bizarr?“: Die furiose Partysucht der Spaßgesellschaft und die luxurierenden Exzesse der barocken Hofhaltungen haben tatsächlich einiges gemeinsam. Parallelen von Hedonismus und Gefährdungen eint die Epoche des Barock mit dem frühen 21. Jahrhundert. Nach Verdis „Messa da Requiem“ am Vorabend in post-apokalytischer Lesart (Regie: Florian Lutz) lädt das Ballett Rossa zum barock-postmodernen Spektakel. Für den schwer erkrankten Ralf Rossa übernimmt sein Vertreter Michal Sedlácek die künstlerische Gesamtleitung des Projekts mit der gesamten Kompanie. Der Filmabspann am Ende nennt sieben (!) Dramaturginnen und Dramaturgen.

Viel zu selten erobert sich die Choreographie die Raumangebote Hannaks außerhalb der Drehscheibe. In Carla Caminatis „Rock-Me Amadeus“-Kostümen treten die Kinder, wenn nicht gar Enkel von Madonna und Klaus Nomi ins Rampenlicht. Mit parallelen und sportiven Bewegungen feiern sie. Die wenig sinnliche Gymnastik perpetuiert Abstumpfung, Ödnis und angestrengte Dehnung der überreizten Exzesse. Die mit dieser Bewegungsmotorik fast 90 Minuten geforderten Tänzerinnen und Tänzer schauen sich nicht an und berühren sich nicht. Jeder für sich und Gott, an den im Barock meistens noch geglaubt wurde, im pluralistischen Raum gegen alle anderen. Daran ändern nichts die Gesichter, die mit sanfter Offenherzigkeit aus den Screens blicken. Der Versuch, dem Grauen der Isolation, das mit Textilien eines phantastischen Erlebnispark-Rokoko perfekt umhüllt ist, zu entkommen, ist der einzige Ausbruch Richtung Zuschauer. Es bleibt also vorerst beim schönen Versprechen, die Grenzen zwischen Akteuren und Publikum zu öffnen; ohne Einbußen würde Michal Sedláceks Choreografie auf einer herkömmlichen Bühne oder Spielfläche funktionieren.

Die solistischen Episoden haben das Ironie-Niveau von Werbespots. Ein schmunzelnder Dritter verzehrt den Erkenntnis bringenden Paradiesapfel, bevor sich ein Rokoko-Adam mit seiner tennisweißen Eva vereinen kann. Der Wunschschwiegersohn von nebenan schafft es mit dem Prinzenkavalier nicht über den Anfangsflirt hinaus. Riesig ist der Katzenjammer. Die Kamera frisst das Leid der sich schmerzvoll windenden Dauersingles und strahlt es lustvoll in den Saal. Das ist die Sternstunde von Live-Kameramann Andriy Holubovsky. Kein Exzess, große Verzweiflung, fragwürdige Erneuerung: Bleischwer senken sich die eisernen Vorhänge neben der sauberen Party-Sekte. Die eine Hälfte der Zuschauer sieht sie gegen die Wände springen, die andere außerhalb hört das als angstvollen Fluchtversuch. Die Wende kommt und Halles Video-Zauberer Iwo Kurze zeigt eine ganz neue Facette seiner Fertigkeiten: In aktuellen Casual und Business Dress erwacht die „Community #Bizarr“ zum neuen Selbst mit Frischegarantie. Die Bewegungen werden fließend, gelassen, frei. Vom Screen lächeln schöne neue Menschen in der Hallenser Innenstadt (natürlich sonnig), im Bioladen (selbstverständlich ohne Product-Placement), mit Kinderwagen (Heimathafen Kleinfamilie). Die Techno-Clones sind die Nightmares von gestern: Es lebe der Bionade-Biedermeier!

Etwas unbefriedigend sind die exzessiv gemeinten Tänze wie der schale Schluss. Letztlich spricht es für das Konzept-Kollektiv, dass es deutlich zeigt, wie sich die Party-Generation bereits in den Kindheitsjahren der Tänzer nach dem 11. September 2001 langsam selbst aufzehrte und pseudonaiven Wellness-Utopien wich. Da wünscht man sich nach der Bilderflut auf Instagram und in den Theatern die Renaissance des haptischen Poesiealbums mit Filzstiftzeichnungen und Schönschrift in den neuen urbanen Kuschelzonen. Die bewusst neutrale Musik subtrahiert vieles von den verheißenen Ballettexzessen: Aber „#Bizarr“ ist erst Teil Zwei des Hallenser Zyklus auf der Raumbühne BABYLON, neue Gedankenerschütterungen kommen bestimmt und nachhaltig. Diese Herausforderungen machen Freude. Diese kann man bis Oktober, danach 2019 in drei weiteren Blöcken erleben.