"Kassandra/Prometheus. Recht auf Welt" im Marstall

Das Dilemma der Erzählbarkeit

Kevin Rittberger: Kassandra/Prometheus. Recht auf Welt

Theater:Residenztheater, Premiere:19.12.2019 (UA)Regie:Peter Kastenmüller

 

„Human“. Der Schrei nach Menschlichkeit ist stumm, er kommt aus dem Mund einer überlebensgroßen zweidimensionalen Frau, die im Hintergrund über der Bühne hängt. Es ist wohl Kassandra, die Seherin, auf die niemand hört und die mitansehen muss, wie ihre Prophezeiungen sich unerbittlich erfüllen. Im Marstall hat Peter Kastenmüller die Uraufführung von Kevin Rittbergers Doppelstück „Kassandra/Prometheus. Recht auf Welt“ inszeniert. Der erste Teil ist dabei die Überschreibung von Rittbergers 2010 uraufgeführtem Vorgängerstück „Kassandra oder Die Welt als Ende der Vorstellung“, der zweite komplett neu. Beide Male geht es um Flüchtlinge, um Ertrinkende im Mittelmeer und die humanitären Katastrophen an Land. Wie der Titel bereits vermuten lässt, macht Rittberger es sich nicht leicht: Er versucht, das Ganze in einen größeren Zusammenhang zu bringen, den Blick der Menschen (und Götter) zu thematisieren und auch die Frage nach der Darstell- oder Erzählbarkeit einer solchen Tragödie zu stellen.

Peter Kastenmüller, der den Münchnern vielleicht noch durch seine „Bunnyhill“-Projekte an den Kammerspielen in Erinnerung ist, kehrt mit dieser Inszenierung zurück aus Zürich. Und: Er geht aufs Ganze, begegnet dem Viel an Inhalt mit einem Noch-Mehr an Aktion und Ausstattung. Alexander Wolf hat einen Raum geschaffen, der neben der jeweils titelgebenden mythologischen Figur auf viele Einzelelemente setzt: auf einen LED-beleuchteten Rahmen, in dem es mal Schattenspiele, mal Chöre zu sehen gibt; einen dreh- und rollbaren Rettungs- oder Aussichtsturm; einen herunterfahrbaren Bildschirm, auf dem aktuelle Bilder aufploppen, und eine Spiegelwand mit Ketten im Hintergrund. Dazu noch jede Menge bewegbare Accessoires wie Plastikstühle, spanische Reiter und übergroße zweidimensionale Objekte.

„Kassandra“ wirft nun Schlaglichter auf Einzelschicksale und verwebt sie mit mystischen Elementen wie den Korallen, die das Gedächtnis der Ertrunkenen sind. Hanna Scheibe spielt eine Übersetzerin, die übersetzt zwischen den Menschen, aber auch beim Über-Setzen helfen soll. Sie ist eine Sprecherin der Leidenden, eine Kassandra, die warnt, ohne gehört zu werden: „Wir haben keine Ahnung, welches Leid ihnen widerfährt.“ Ihr gegenüber ein Chor in beigen Overalls mit ADAC-, Marlboro-, Pirelli- und Rolex-Aufnähern, der Geschichten erzählt von Fliehenden, Zeugnisse der Unmenschlichkeit. Die parallel ablaufenden Szenen überlagern sich zunehmend zu einem babylonischen Sprachgewirr. Überhaupt ist das mit dem Verständnis so eine Sache an diesem Abend, womit man auch bei der Frage nach der Erzählbarkeit wäre, die Rittberger anhand einer Dokumentarfilmerin stellt. Zu viel prasselt hier visuell und akustisch auf einen ein, die Erzählungen bleiben Fragmente, die Schicksale zweidimensional wie das Abbild von Blessing, deren Geschichte in einem „Lehrstück“ berichtet wird.

Im zweiten Teil, der die Sicht der Götter ins Spiel bringt und eine „artenübergreifende Utopie“ formulieren will, wie es in der Ankündigung heißt, verfranst sich die Inszenierung dann leider völlig in seltsamem Treiben. Atlas und Prometheus treten als langhaarige und pathetische Hippies auf, an den spanischen Reitern verfängt sich der Plastikmüll der Weltmeere und über allen senkt sich eine leuchtende Welt-Disko-Kugel herab, damit Atlas was zum halten hat. Das alles wirkt eher unfreiwillig komisch, der bitteren Realität werden zu viele Meta-Ebenen übergestülpt, sodass sie darunter begraben wird.

Immer lauter wird die Frage nach dem Warum? Rittberger und Kastenmüller wollen alles und verlieren sich darin. Von allem gibt es hier zu viel: zu viele Geschichten, zu viel Aktion, zu viele Aspekte und: zu viel aufgeblähter Text. Der Abend ist zu laut und hektisch, die leisen eindringlichen Momente mit ihren Fragen, die wir uns alle stellen müssen – nach Aufklärung, nach den Menschenrechten – gehen im allgemeinen Tumult unter. Die Schauspieler und Schauspielerinnen halten Schilder hoch, auf denen „Form“ und „Inhalt“ steht, das Problem wird also thematisiert. Dennoch kommt der Inhalt hier leider vor lauter Formen zu kurz, das Dilemma der Erzählbarkeit wird an diesem Abend nicht gelöst.