"Jugend ohne Chor" am Staatstheater Darmstadt

Im (Mehl-)Sturm des Kapitalismus

Anne Lepper: Jugend ohne Chor

Theater:Staatstheater Darmstadt, Premiere:16.06.2023 (UA)Regie:Eva Lange

Eva Lange inszeniert die Uraufführung von Anne Leppers Stück „Jugend ohne Chor” am Staatstheater Darmstadt. Und verwandelt den Text in eine umwerfende Parabel über den Kapitalismus.

Gut sein, moralisch astrein, und in jedem Moment nach Perfektion streben – darin besteht Dirks großer Lebensauftrag. Was ihm seine Mutter mit geradezu sowjetischer Strenge auferlegt, soll im Weiteren durch eine ihm mitgegebene Sänger:innengemeinschaft, eine Art verkörpertes Gewissen, gesichert werden. In uniformen Kleidern begleiten ihn dessen Mitglieder auf seinem Weg in ein moralisch richtiges Aufwachsen. Doch was passiert eigentlich, wenn ein Weltverbesserer auf einen Kosmos voller Misslichkeiten, Unrat und Egoismus trifft?

Diese Frage wirft das Stück „Jugend ohne Chor“ auf, ein neues Werk, das das Staatstheater Darmstadt bei Anne Lepper in Auftrag gegeben hat. Und vieles erinnert an die beiden letzten von ihr dort aufgeführten Texte, allen voran an die wegen den Corona-Maßnahmen als Film dargebotene Geschichte „Seymour“ über Menschen in einer Klinik. Deren Sozialdisziplinierung setzte sich mitunter aus Erbsenessen und täglichen Trainings zusammen, wobei ein ähnlicher Codex wie im aktuellen Bühnenentwurf galt, trafen wir doch auch darin auf Sätze wie „Man muss unter allen Umständen richtig aussehen“ oder „Was fehlerhaft ist, muss ersetzt werden“.

Kapitalismus in der Backstube

Mit derlei Anweisungen begibt sich nunmehr auch der neue Protagonist der 1978 in Essen geborenen Autorin in das Reich der Arbeit. Dort, in einer Bäckerei, geht es nicht unbedingt human zu. Es herrscht ein eisiges Klima, ein buchstäbliches „Mehlgestöber“. Weiße Flocken schwirren durch die unwirtliche Szenerie. Säcke mit Getreide säumen den Boden, in die schwarze Hinterwand sind schwarze Öfen eingelassen. Ohne Zweifel hätte sich Dirk seinen Einstieg ins echte Leben anders vorgestellt. 

Parabelhaft entfaltet Regisseurin Eva Lange in der winterlichen Backstube einen (Mehl-)Sturm des Kapitalismus. Man schleppt die schweren Beutel, wuchtet sie hin und her, um irgendwann den bürgerlichen Traum vom Eigenheim zu verwirklichen. Vor opulenter Kulisse mutet das Geschehen nicht nur wirkungsstark an, sondern wird noch mit reichlich Wortwitz und absurder Komik flankiert. Schließlich, so schränken die Bäckerkollegen wiederum ihre Wunschillusionen ein, würde es ja wegen des vielen Putzens usw. auch schon ein kleines Haus tun. Indessen lässt die Regisseurin ihr Personal immer wieder im Kreis marschieren und klatschen, ganz im Sinne eines alle zu gleichen Lemmingen degradierenden Wirtschaftssystems. Als Dirk jedoch die anderen vergebens zum Aufruhr bewegen will, ja, ihnen das heilig Gute vermitteln will, brechen die Bande. Überdies vollzieht der Chor in der mit allerlei surrealen Wendungen gespickten Story noch einen sexuellen Übergriff, sodass sich die Hauptfigur unversehens mit fünfzehn zu versorgenden Babychören konfrontiert sieht. Die Konsequenz: Dirk ist heillos überfordert mit der schreienden Masse und tötet die Kinder.

Ein Gesamtkunstwerk

Allein für das Schlussbild, das diesen bestialischen Akt beschreibt, gebührt Lange uneingeschränktes Lob. Sie fährt dabei alle Kulissenwände hoch und wir erblicken die gesamte Tiefe des dunklen Raums. Noch mehr Mehlsäcke tauchen auf, im Hintergrund erscheint ein Kinderchor als Projektion, und von oben senken sich Luftballons herab. Nachdem sie der Protagonist aufgesammelt und gebündelt hat, verschwindet die Aufnahme der singenden Jugendlichen und er flieht aus dem Bühnenraum. Zurück bleiben bunte Sinnbilder vieler ungelebter Träume. Ihnen wird das letzte Licht zugeeignet. Sie platzen nicht, sondern werden schlichtweg von der Finsternis verschluckt.

Dass man in dieser unseren verdorbenen Welt zu keinem guten Individuum heranreifen kann, mag die eine ernüchternde Botschaft des Abends sein; die andere und vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Klimadebatten spannende These lautet derweil: Das Perfekte stellt vielleicht den falschen Maßstab dar, da wir alle, obgleich uns die Leistungsgesellschaft Gegenteiliges propagiert, der Sorte defizitärer Wesen angehören. Politisch und philosophisch anregend, inszenatorisch durchweg stringent und intelligent – so muss man dieses Schauspiel charakterisieren, das nichts anderes verspricht als ein Gesamtkunstwerk!