Ensembleszene mit hängenden Menschen auf der Bühne.

Da steppt der Bär

Leonard Bernstein: Candide

Theater:Theater an der Wien, Premiere:17.01.2024Regie:Lydia SteierMusikalische Leitung:Marin AlsopKomponist(in):Leonard Bernstein

Am Theater an der Wien hat Regisseurin Lydia Steier eine opulente Version von Leonard Bernsteins „Candide” auf die Bühne gebracht, Ausstatter Momme Hinrichs sorgt für märchenhafte Künstlichkeit. Die Produktion dürfte ein Renner werden.

Mit „Candide“ hatte der erfolgsverwöhnte Leonard Bernstein seine liebe Mühe: Schon der Untertitel „A comic Operetta“ ist eine Verlegenheitslösung, denn das vielfach umgearbeitete Opus läuft heute unter dem Label Musical. Allerdings trifft es auch diese Zuordnung nicht, denn Bernstein verquirlt hier Vaudeville, Broadway-Show, Comedy und Opern-Parodie zu einem Cocktail. Oder besser gesagt: einem hochprozentigen Longdrink.

Der Stoff: Voltaires Weltreise von Candide

Nach dem Stoff von Voltaire erzählt „Candide“ die absurd-schräge Geschichte des einfach gestrickten Titelhelden, der eine gewisse Cunigonde liebt, die im Krieg verschleppt wird. Auf der Suche nach der Liebsten reist Candide quer durch die Welt und erlebt Reichtum und Dekadenz, Inquisition, Pest und Syphilis. Kurzum, das pralle Leben, das ihm die Naivität und den Optimismus austreibt. Voltaire wandte sich mit „Candide oder der Optimismus“ gegen den deutschen Philosophen Leibniz und dessen Postulat, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Er reflektierte damit die Erfahrungen des Siebenjährigen Krieges und des verheerenden Erdbebens, das 1755 Lissabon dem Erdboden gleich machte und arbeitete sich mit scharfer Feder an Adel, Kirche und der Inquisition ab.

Bernstein und die Dramatikerin Lilian Hellman, die das Buch schrieb, empfanden im politischen Klima der McCarthy-Ära Voltaires Kritik als höchst aktuell und verstanden „Candide“ auch als künstlerische Abrechnung. Aber das hoch ambitionierte Opus floppte und wurde wieder und wieder umgearbeitet. Stefan Herheim, Intendant des MusikTheater an der Wien hat nun in der Ausweichspielstätte im Wiener Museumsquartier der gehypten Regisseurin Lydia Steier das komplizierte Werk anvertraut.

Die Fassung: verfremdet und slapstickhaft verkürzt

Gespielt wird eine neu gebastelte Fassung, deren Waschzettel im Programmheft und auf der Webseite rekordverdächtige Länge aufweist und hier nicht verschwiegen sein soll:

„Szenische Aufführung der Concert Version, Musik von Leonard Bernstein, Buch von Hugh Wheeler nach Voltaire, Gesangstexte von Richard Wilbur. Mit zusätzlichen Texten von Stephen Sondheim, John LaTouche, Dorothy Parker, Lillian Hellman und Leonard Bernstein, Instrumentation von Leonard Bernstein und Hershy Kay, Musikalische Übergänge und zusätzliche Instrumentation von John Mauceri, Erzähltext für Konzertaufführungen von Leonard Bernstein und John Wells, nach der Satire von Voltaire und dem Buch von Hugh Wheeler; bearbeitet und ergänzt von Erik Haagensen.“

Uff. Abgesehen von diesen konzeptionellen Anstrengungen ist der entscheidende dramaturgische Kniff der heftig akklamierten Wiener Neuproduktion die Einführung eines Erzählers (maliziös, mit grandios zelebrierter Conférencier-Distanz: Vincent Glander), der die gesprochenen Dialoge ersetzt und so für Verfremdung und slapstickhafte Verkürzung der aberwitzigen Handlung sorgt. Gesungen und gesprochen wird auf Englisch, was der Sache keinen Abbruch tut, da Glander ausgezeichnet artikuliert.

Ausstatter Momme Hinrichs, der auch für die Videos verantwortlich zeichnet, hat eine klassische Revue-Bühne mit großer Showtreppe gebaut, die sich mit bis zu vier hintereinander gesetzten, mit Glühbirnen besetzten Portalen auftut. Puppentheater und märchenhafte Künstlichkeit sind Trumpf, die Kostüme von Ursula Kudrna springen von der Goethe-Zeit über Vaudeville- und Commedia dell’arte-Anleihen und Hollywood-Revue-Ästhetik bis in die Trash-Opulenz der frühen 2000er Jahre. Über 300 Kostüme wurden genäht, neben einer Fülle von Solisten wuseln der Arnold Schoenberg Chor – wie immer famos! – sieben Tänzer und Statisten, darunter ein wild steppender Bär über die Bühne. Steier schießt Gags aus vollen Rohren, das Timing sitzt, das böse Libretto aus dem Geist des noch viel böseren Voltaire löst sich auf in mit Flitter bekränzten Sarkasmus.

Die Inszenierung: opulent mit amerikanischem Finale

Als souveräne Organisatorin komplexer Stoffe wird Lydia Steier seit Jahren von großen Häusern gebucht, weil sie es meistens schafft, eine ambitionierte Deutung zu formulieren, und zugleich die Kulinariker mit bilderreicher Opulenz auf ihre Kosten kommen lässt. „Candide“ bietet ihr nun ein Fest, ihr brillantes Handwerk auszustellen: Schlag auf Schlag prasseln die szenischen Einfälle, meistens genau entlang an Textbuch und Musik, selten eines von beiden konterkarierend. Das macht zumindest in der ersten Hälfte des Abends enormen Spaß, nach der Pause ist jedoch ein wenig die Luft raus, zumal das Stück an sich dann in ermüdender Repetition schwächer wird. Man vermisst zunehmend so etwas wie eine kritische Brechung, ein ernstes Moment, das den Anschluss findet zur Gegenwart. Doch diesen Sprung wagt Steier nicht, stattdessen zelebriert sie das treuherzige, sehr amerikanische Finale, wenn Candide sich auf das einfache Leben besinnt und ein Bäumchen sät, ganz ungebrochen naiv.

Musikalisch ist der Abend erstklassig, mit Dirigentin Marin Alsop, der Chefin des ORF Radio-Symphonieorchester Wien steht eine Bernstein-Expertin am Pult. Die berühmte Ouvertüre geht Alsop zackig an, das Parodistische der Musik erinnert in ihrer Lesart fast an die grimassierenden Partituren Schostakowitschs, aber alsbald swingt sie sich doch ein in einen süffigen Musical-Groove. Aus der Fülle der Solisten (die teils mehrere Rollen verkörpern) ragen heraus Matthew Newlin in der Titelrolle, der Candides Naivität mit rund und weich timbrierten Tenor beglaubigt, ohne sie zu denunzieren, Nicola Hillebrands heller Cunigonde-Sopran klingt zunächst etwas unruhig, fängt sich aber und imponiert mit furchtlos angepeilten Höhen und risikobereiter Spielfreude, Ben McAteer ist ein sonorer Dr. Pangloss mit feinem Humor, Helene Schneiderman eine markante, gar nicht alt klingende Old Lady. Großer Jubel im Museumsquartier für eine Produktion, die ein Renner werden dürfte.