Dekonstruktionsversuch

Mille Maria Dalsgaard, Babett Grube: Fräulein Julie in Arbeit

Theater:Bühnen Halle, Autor(in) der Vorlage:August StrindbergRegie:Mille Maria Dalsgaard, Babett Grube

Mit „Fräulein Julie in Arbeit“ wird Strindbergs Originalstück am neuen theater Halle auf die Machtstrukturen im Theaterbetrieb übertragen. Die Versuchsanordnung von Mille Maria Daalsgard und Babette Grube thematisiert dabei Klassismus, Sexismus und Diskriminierung, bleibt bei der Fusion von aktueller Debatte und Original aber nicht stimmig.

Theater ist Hierarchie. Das kann man so neutral konstatieren. Seit Jahren (und Jahrzehnten?) werden die Machtverhältnisse des Theaters immer wieder selbstreflexiv nicht nur beleuchtet, analysiert, sondern kritisiert, in Frage gestellt, Asymmetrien beklagt. Es geht auch und vor allem im Theaterbetrieb um Machtgefüge, Abhängigkeitsverhältnisse, in extremer Ausformung um Machtmissbrauch. Intendant:innen, die ihre Kompetenzen überschreiten oder Regisseur:innen, die meinen, mit „ihrem“ Schauspieler-Material, alles machen zu dürfen – im Namen der Kunst und ihres kongenialen Schöpfergeistes – davon hört(e) man immer wieder – das aktuelle Modewort dafür ist „toxisch“.

Das neue theater Halle traut sich mit der Stückentwicklung „Fräulein Julie in Arbeit“ eine gewagte, aber vielversprechende Versuchsanordnung: August Strindbergs 1888 geschriebenes naturalistisches Drama, das die Machtstrukturen zwischen Bourgeoisie und Arbeiterschaft, Adel und Normalo, Mann und Frau, den Kampf zwischen Julie und Jean um Stellungen im Beziehungsgeflecht zum Kernthema hat, verschränkt das Regie-Duo Mille Maria Dalsgaard und Babett Grube mit eigenen Textstücken über soziale Aushandlungen zwischen Theatermacher:innen. Denen sind nämlich qua Stellenbeschreibung ebenfalls sehr klare Positionen zugeordnet. Bei Strindbergs Kammerspiel kumuliert das in der berühmten Essenz der beiden gegenläufigen Erzählungen des Dieners Jean und der Adeligen Julie: Er träumt davon, hinauf zu klettern in eine Baumspitze, schafft es aber noch nicht mal auf den ersten Ast, der Stamm ist zu glatt und dick. In ihrem Traum sitzt sie auf einem hohen Pfahl, nicht in der Lage herunterzukommen. Will fallen, kann jedoch nicht.

Eigene Beziehung auf der Bühne

Diese Anordnung verkörpern eben jene Mille Maria Dalsgaard und Florian Ulrich Krannich – künstlerische Leiterin, weisungsgebende Regisseurin und angestellter, besetzter und somit weisungsgebundener Schauspieler des neuen theater Halle. Die beiden verhandeln im Akt des Auf-die-Bühne-Bringens des Strindberg-Stücks ihre eigene Beziehung. Die Stückentwicklung spielt also mit drei verschiedenen Ebenen: der Strindbergschen Stückfiktion, der Fiktion des Stücks „Fräulein Julie in Arbeit“ sowie den realen Job-Positionen der beiden Spielenden.

In der Turnhalle des Volksparks in Halle wird das Publikum von Dalsgaard und Krannich unvermittelt hineingeworfen in ihre Auseinandersetzung mit „Fräulein Julie“. Mitten im Bühnengeschehen: Maler:innen der Kunsthochschule Burg Giebichenstein Halle, die während des Spiels mobile Leinwände, ihre Mit-Agierenden im Raum sowie den Bühnenboden bemalen. Sie sind die Instanz der Beobachtung, Spiegelung und Kommentierung, indem sie zeichnerisch, malerisch einfangen, was sie wahrnehmen.

Fusion zweier Dispositive

Die Frage „Wer spricht?“ ist seit geraumer Zeit stark in den Fokus gerückt. Es werden privilegierte Sichtweisen hinterfragt, um Klassismus, Sexismus, verschiedenartige Diskriminierungen aufzudecken und bewusst gegenzusteuern. Es ist eine brisante Frage und die Grundidee, die theaterimmanenten Machtverhältnisse auf der Folie von Strindbergs „Fräulein Julie“ durchzuspielen, stellt eine äußerst erwartungsverlockende dar. Eben weil hier zwei Dispositive miteinander kombiniert werden, die in ihrer Fusion großes Potenzial haben, einen Mehrwert zu aktuellen Debatten über Macht und die Infragestellung hierarchischer Strukturen des Theaters zu leisten.

Fräulein Julie in Arbeit Halle

Mille Maria Dalsgaard, Prof. Tilo Baumgärtel, Studierende der Klasse für Malerei der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. Foto: Falk Wenzel

Was am neuen theater Halle jedoch dabei herauskommt, ist leider ziemlich zerfasert, sprunghaft unzusammenhängend und erratisch. Sowohl Dalsgaard als auch Krannich spielen mit wahnsinnig viel Energie, sehr körperlich, schmeißen sich rein. Das Tempo ist enorm hoch – und enorm gleichförmig. Die konzeptionelle Idee, Theaterhierarchien zu sezieren, verpufft. Somit kratzt der Abend inhaltlich an der Oberfläche, stellt stattdessen mehr das exaltierte Performen an sich aus, als eine diskursive Tiefe zu schaffen. Man sieht keine Spannung zwischen den beiden. Auch die sexuelle Anziehung zwischen Julie und Jean oder Mille und Florian erzählt sich nicht. Stattdessen ergehen sie sich in der Duration und Redundanz abstrakter Balzbewegungen, die das Publikum emotional auf Distanz halten.

Dekonstruierte Machtgefälle?

Als Zuschauerin wird man den Gedanken nicht los, ob eine „einfache“ Inszenierung von Strindbergs „Fräulein Julie“ in derselben Besetzung in ihrer Subtilität nicht mehr Brisanz ergeben hätte. Mit klar gesetzten Brüchen ins vermeintlich Private hinein. Denn um ein Machtgefälle darzustellen, ja zu dekonstruieren, muss man erstmal eins etablieren. Mit der Setzung der Versuchsanordnung als eingeschobene Metaebene wird diese Brisanz verwässert.

Das Ringen um Macht blitzt letztlich in so unscheinbaren Momenten auf, wenn Dalsgaard proaktiv das Publikum händeschüttelnd begrüßt, Krannich drei Schritte dahinter, macht es ihr verhalten nach. Prinz Philip ging auch immer drei Schritte hinter der Queen. Aber Jean ist bei Strindberg einer, der weiß, was er will. Und er weiß sehr wohl, was das für Konsequenzen für Julie hat, wenn sie sich auf ihn als Bediensteten einlässt. Dieses Changieren zwischen Verunsicherung der einen Figur und der Selbstsicherheit der anderen Figur fehlt.

Ein anderes Ende

Bei Strindberg begeht Julie am Ende Suizid. Ihre Grenzüberschreitung hat in den Augen des schwedischen, antifeministischen Autors jene folgerichtige Implikation. Ins hallesche Heute transferiert ist das Ende ein anderes. Muss es sogar sein? Auch wenn Theater über weite Strecken immer noch in alten, überholten Strukturen klebt. So endet der Abend in Halle handzahm versöhnlich. Ohne Drama. Im Theater hat man sich am Ende dann doch lieb. Und man fragt sich ernüchtert: Was bedeutet das jetzt für Theater als Machtgefälle?

Im Programmheft ist zu lesen, dass die Dänin Dalsgaard Strindbergs Stück, das in ihrer Heimat zu den noch heute meistgespielten Klassikern gehört, dekonstruieren will, ihm das Antifeministische nehmen. Dekonstruktion als Konzept also, okay. Aber was entsteht im Prozess des Auflösens und Zerlegens? In dieser Inszenierung ist es Metakunstgedöns. Das kann man mögen, diese multimediale Überformung als ästhetisches Erlebnis, als Form an sich, als abstrakte Kunst – oder auch nicht. Weil eine Essenz, die beim Dekonstruieren zum Vorschein kommen könnte, in der Inszenierung von Dalsgaard und Grube nicht erkennbar ist. Es scheint Kunst um der Kunst willen. Wer abstrakte Kunst nicht nur gern anschaut, sondern auch theatral auf sich wirken lassen möchte, ist hier richtig. Einen Beitrag zum aktuellen Diskurs über Machtverhältnisse im Theater liefert die Produktion an diesem Mitsommerabend nicht. Schade.