Nach dem Erfolg seines Erstlings „Loch“ verlegte der seinerzeit in Berlin (Staatsoper unter den Linden) und am Theater Hagen engagierte Künstler sich im Jahr 2000 ganz aufs Choreographieren. Seine seither konsequent entwickelte Bewegungssprache ist, ebenso wie seine originelle Herangehensweise an Stücke, einzigartig. Bis heute sind über 60 Werke entstanden. Jedes zeichnet eine eigenwillige Webart von Sound, Bühnenatmosphäre, Tanz und körperlicher Energie aus, in die sich zumeist Wortfetzen oder von den Darstellern produzierte Geräusche mischen. Verbale Botschaften, wie sie auch zuhauf in Goeckes jüngstem Wurf vorkommen.
Mit „La Strada“ für das Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz hat Goecke nun seine vierte abendfüllende Produktion kreiert. Sie basiert auf Federico Fellinis gleichnamigem Filmklassiker von 1954. Musikalisch getragen wird das pausenlos angelegte Stück, das im ausverkauften Gärtnerplatztheater am 12. Juli Premiere feierte, von Nino Rotas Ballettsuite für Orchester. Der Komponist hatte diese 1966 eigens für eine erste getanzte Version der melodramatischen Dreiecksgeschichte zwischen dem skrupellosen Schausteller Zampanó, dessen übel ausgenutzter Gehilfin Gelsomina und dem Seiltänzer Matto an der Mailänder Scala erarbeitet.
Schwarz ist die vorherrschende Farbe. So sehen die finsteren Plätze und Straßen in Marco Goeckes Tanzadaption des oscarprämierten Road-Movies aus. Das Meer und die Küste, an der die gefühlsfreudige, dabei etwas einfältige Gelsomina (Verónica Segovia) verarmt in einer geschwisterreichen Familie aufwächst, lässt Michaela Springer, Ausstatterin vieler Arbeiten des Choreographen, im Hintergrund erahnen. Mit Stoff, der über einem später offenen Kornfeld Wellen schlägt bzw. dieses dünenartig verhüllt. Beim Auftritt der Kinder fliegen Fontänen von Sand in die Luft.
Mehr Drumherum braucht der auf 80 intensive Minuten komprimierte Ballettabend gar nicht. Aufgekratzt melancholisch und emotional laut inszeniert, führt die Reise durch die Innenwelten des schon im Film sehr typenhaft angelegten Personenarsenals. Wie wenig ein Leben bedeutet, erfährt man gleich zu Beginn. Da krümmt sich in der Ferne mit stummen Schreien eine leidgebeutelte Frau. Sie – Rosa (Amelie Lambrichts) – wird mit scharfen Schlägen auf den Hals ermordet. In der folgenden Szene krächzt die abgehalfterte Mutter (einfach schaurig-toll: Isabella Pirondi) den Namen geradezu geisterhaft in den leeren Raum. Kurz erkennt man zwei Fächer aus Geldscheinen. Gelsominas Totentanz nimmt seinen Lauf. Sterne am Himmel leuchten erst auf, als sich Zampanó – rücksichtsloser Frauenverbraucher – verlebt und ergraut mit hängendem Kopf und krampfartigen Schluchzern über den Verlust und die vertane Chance einer Liebe grämt.
Özkan Ayik, der die Partie des grobschlächtigen, ungehobelten Schaustellers bei der Premiere eindrücklich verkörpert, muss den finalen Moment seines inneren seelischen Zusammenbruchs an der Rampe stehend durchleben. Den Blicken der Zuschauer unmittelbar ausgesetzt. Goecke stellt so immer wieder Nähe und bisweilen auch eine direkte Verbindung zwischen seinen Bühnenfiguren und dem Publikum her. Figuren, die gefühlsmäßig meist wenig miteinander anfangen können.
Eine Ausnahme macht der agile Seiltänzer Matto, wunderbar weich und wendig von Javier Ubell getanzt, dessen Kunstfertigkeit und Wesen Gelsomina fasziniert. Was beide gemeinsam von Fröhlichkeit getragen in unbeschwerten Augenblicken erleben, passiert allerdings flüchtig am Rand. Das unterscheidet dieses Paar von allen anderen Beziehungskonstellationen, deren Mit- bzw. Gegeneinander sich Station für Station im Zentrum der Bühne abspielt. Sei es das Duell mit Zigaretten, das Zampanó mit dem vorwitzigen Matto über die Distanz von zwei Rauchwolken ausficht. Oder dessen Techtelmechtel zuerst mit einer forsch-willigen Hure (Chiara Viscido), dann einer gefügigen Witwe (Rita Barâo Soares).
Als gebürtiger Wuppertaler ist der Choreograph vom Tanztheater Pina Bauschs geprägt. Doch selten tritt dieser Einfluss so zu Tage, wie bei dieser Uraufführung für das Staatstheater am Gärtnerplatz. Grund dafür mag der unverwechselbare Klang der Filmmusik von Nino Rota sein, mit dem das Orchester des Staatstheaters unter Michael Brandstätter für eine starke akustische Atmosphäre sorgt. Bis hin zu den swingenden Tanzrhythmen, auf die das Ensemble in weißen Hemden und schwarzen Hosen kollektiv die Hüften zur Seite driften lässt.
Trotzdem bleibt Goeckes „Lied von der Straße“ seltsam eigen – auch aufgrund zahlreicher langsamen Passagen oder Sequenzen, in denen das Tanzen auf ein Minimum an Bewegung oder Gestik zurückgefahren wird. Da ist dieses Bild, wenn Zampanó und Gelsomina wie vom Schüttelfrost gepackt am Boden sitzen. Rechts und links von zwei Scheinwerfern gerahmt, in dessen Lichtschein sich ein Tänzer und zwei Tänzerinnen mit Hirschgeweih vergnügen. Es dauert seine Zeit, aber dann bekommt das Bild eines riesigen Autos, das über steinige Weg holpert, nicht mehr aus dem Kopf.
Wie ein Bildhauer meißelt Goecke seine Gestalten in die Tiefen des Raums. Seine bevorzugten Werkzeuge dabei sind: gezielt eingesetztes Licht (Udo Haberland), prompte Auftritte und betonte Abgänge, kraftvoll bewegte Körper und ein impulsives Spiel der Finger, Hände, Arme und des Oberkörpers. Alles, was man äußerlich über die Charaktere erfahren soll, verraten die Kostüme bzw. Details der Outfits. Gelsomina sucht Wärme in einem übergroßen Mantel. Die am Hosenbund aufgenähten Münzen machen Zampanó zum Zigeuner. David Valencia, tänzerisch grandios auftrumpfender Zirkusdirektor einer dubios-virtuosen Artistengemeinschaft, trägt stolz Zylinder. Und eine rote Nase macht Alessio Attanasio zum Clown, der mit seinen munteren Zwischeneinlagen fiebriger Alltagshektik und gelassener Quirligkeit gegen die große Tristesse ankämpft. Natürlich vergeblich. In Goeckes „Das Lied der Straße“ siegt der Schmerz. Zurecht einhellige Begeisterung.