Foto: Ensemblebild aus der „Dreigroschenoper” am Puppentheater Magdeburg. © Viktoria Kühne
Text:Andreas Falentin, am 28. Juni 2025
Genaue Analyse auf leerer Bühne: Der Regisseur Alvaro Schoeck transferiert „Die Dreigroschenoper“ am Puppentheater Magdeburg nostalgisch ins Heute. Durch die Puppen hebt er Rollenidentitäten auf und präsentiert den Menschen als Raubtier.
Die Bühne im Hof des Puppentheaters ist sehr groß – und leer: Ein Fußboden aus Holzbohlen, begrenzt durch die neue Probebühne rechts und die alte Villa P. links. Der Bühnenbildner Kristopher Kempf sieht das schon als abstrakte Architekturskulptur an und ergänzt behutsam – mit Holzkisten, die Schauplätze andeuten und Requisiten transportieren. Durch die androgynen Kostüme und die Puppen von Sylvia Wanke wird die Abstraktheit noch betont. Auch sie verbinden Neu und Alt: Die Puppenköpfe erinnern an die Menschen von Otto Dix, die Kostüme zitieren die 20er-Jahre und vermischen sie dezent mit Heutigem – etwa durch eine Latzhose oder ein modernes Kleid. Wir sind, praktisch ohne Bühnenbild, in den 20er-Jahren gelandet, in der „Neuen Stadt“ des Expressionismus.
Der Maschinenraum der Erzählung
Und im Heute. Das Publikum wird direkt angesprochen, die Geschichte konkret erzählt. Regisseur Alvaro Schoeck öffnet, vor allem durch das Puppenspiel, eine Tür in der Handlung, und wir sehen in den Maschinenraum des Erzählens hinein. Wir erleben keine Menschen, sondern Konstrukte, die sich immer voneinander weg bewegen, aber alle gleich sind – zerfressen von Gier und Liebe, egoistisch bis zum Letzten. Eine Grundfarbe, eigentlich keine Geschichte: Der Mensch als charmantes Raubtier.
Es geht jedem und jeder nur um den Profit – ob Geld oder Mensch. Diese Gleichheit betont die Inszenierung durch schnelle Wechsel der Puppenköpfe in den Songs: Plötzlich hat der Sänger oder die Sängerin eine andere Rollenidentität, sogar das Geschlecht der Puppenspieler:innen einer Rolle wechselt oft – auch während der Songs. Was möglich wird, weil viele Puppen von zwei Spieler:innen geführt werden. So haben wir auf der Spieler:innenebene eigentlich kaum Rollenidentitäten. Die weißen Handschuh-Skulpturen von Mackie Messer wechseln oft den Besitzer.
Übertriebene Ironie, lebende Bilder
Dass das Publikum trotzdem dabeibleibt, liegt an der Genauigkeit der Inszenierung. Daran, dass Explosionen übertriebener Ironie und lebende Bilder – mal eingefroren, oft in tänzerischer Bewegung – gekonnt zur Aufheiterung eingestreut sind. Diese Bilder schielen fast nostalgisch nach den 20er-Jahren. Aber vor allem liegt es an den Spieler:innen und Sänger:innen, die auch ein Ohr haben für die wenigen warmen Passagen des Textes, etwa in der zweiten Begegnung zwischen Polly und Lucy: Hier sind nur Puppenköpfe zu sehen – durch eine Brecht-Gardine von ihren Spielerinnen getrennt. Da wird der Mensch für ein paar Minuten wieder Mensch.
Es gibt kein Orchester im Puppentheater, sondern „nur“ Claudia Buder und ihr Akkordeon. Natürlich gehen so viele Farben und vor allem Klangwechsel aus der Originalpartitur verloren, aber dafür gewinnt man Textverständlichkeit. Die Sänger:innen sprechen deutlich, man versteht jedes Wort, alle Einsätze gelingen reibungslos – auch die Klangbalance in den Ensembles. Es wird durchweg überzeugend gesungen, sozusagen ohne Allüren, frei von der Leber weg.
Toller Gesang
Es geht nicht um den Stil – hier geht es um das Wort. Linda Mattern und Lennart Morgenstern bleiben vielleicht am stärksten im Gedächtnis, weil sie am ehesten eine Rollenidentität haben: Mattern als Polly, Morgenstern als Peachum. Und weil sie ihren Gesang vorzeigen, eine zweite Ebene finden – eben keine Rolle spielen. Das ist für die anderen schwieriger, weil sie sich immer auf der Reise in die nächste Rolle befinden. Aber auch Luisa Grünig, Anne Wiesemeier und Freda Winter überzeugen mit sehr hörenswerten Alt-Stimmen, darstellerischer Wendigkeit und viel Charme. Den bringt auch Florian Kräuter mit, der am Schluss ein beeindruckendes Solo als Bote des Königs hat, und Leonard Schubert, der fast jede Rolle an diesem Abend gespielt hat.
Kaspar Weith ist lang der stumme, „nur“ puppenspielende Teil von Polly. Plötzlich tritt er als Macheath auf – der vorher oft von Frauen gesungen und gespielt wurde – und singt den „Abbitte“-Song im roten Abendkleid. Das gerät zum fast rührenden, eigenwilligen Höhepunkt.
Dieses Ensemble aus Puppenspieler:innen kann singen – und hat sogar eine Zugabe dabei. Brecht hat in den späten 40er-Jahren einige Songs der „Dreigroschenoper“ neu getextet, etwa den „Kanonen-Song“, der an diesem Abend vermutlich uraufgeführt wurde: „Der Schmitt vom Rheine braucht die Ukraine und Krause braucht Paris (…)“. Auch das war eine Entdeckung.