Wie Moses das Bodypainting entdeckte

Arnold Schönberg: Moses und Aron

Theater:Theater Bonn, Premiere:10.12.2023Vorlage:BibelRegie:Lorenzo FioroniMusikalische Leitung:Dirk Kaftan

An der Oper Bonn zeigt Lorenzo Fioroni eine sehr eigenwillige Lesart von Schönbergs „Moses und Aron“ – und begeistert damit, ebenso wie der großartige Dirigent Dirk Kaftan, das Premierenpublikum.

„Einziger, ewiger, allgegenwärtiger, unsichtbarer und unvorstellbarer Gott…!“ Bei einer Oper, die mit solchen Worten beginnt, kann einem schon mal angst und bange werden. Denn wie, so müsste man sich ja fragen, wie soll dieser Gott auf der Opernbühne behandelt werden, die doch ein Ort sinnlicher Präsenz par excellence ist? Dass Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ als äußerst sprödes Werk gilt, ist bei so einer thematischen Setzung kein Wunder. Dass es zudem unter dem Etikett „Zwölftonmusik“ firmiert, hilft der Zugänglichkeit auch nicht auf die Beine. Dieses letztere allerdings ist wirklich ein Vorurteil. Natürlich: Der Musik liegt eine Reihe von „zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ zugrunde, wie Schönbergs berühmte Formulierung aus seiner Schrift „Stil und Gedanke“ lautet. Aber Schönberg baut aus dem Material dieser Reihe durchaus fassliche thematische und motivische Gestalten, seine Musik hat eine intuitiv zugängliche szenische Impulsivität. Es ist eine hoch zu schätzende Qualität der musikalischen Interpretation des GMDs Dirk Kaftan, dass er in der Premiere von „Moses und Aron“ am Theater Bonn diese Sinnlichkeit wunderbar zur Geltung – und damit die Musik zum Blühen, zum Glühen und zum Tanzen bringt.

Eine grandiose Ensembleleistung

Das kann allerdings bei diesem Werk nur gelingen, wenn das gesamte riesige Ensemble (dessen Probenarbeit bereits 2019 begann und durch die Coronakrise erheblich beeinträchtigt war) hundertprozentig bei der Sache ist. Die Orchestermusiker saßen offenbar ganz vorne auf der Stuhlkante und bescherten dem Publikum ein wunderbar transparentes, beizeiten machtvoll verdichtetes, oft aber auch zart aufgelichtetes Klangbild. Die von Marco Medved bestens einstudierten Chorgruppen, der Chor des Theaters Bonn und das Vokalconsort Berlin, sangen mit bezwingender Präsenz und schön aufgefächerter Transparenz. Und das Protagonisten-Duo interagierte geradezu ideal: Dietrich Henschel sprach den Moses und versagte sich dabei alle Solosänger-Allüren. Aber dass er von Haus aus ein vorzüglicher Bariton ist, befähigte ihn zu einem musikalischen Sprechen, das sich wunderbar in die Musik einfügte. Und Martin Koch verlieh dem Bruder Aron mit hellem, schlankem und klarem Tenor eine wahrlich sinnliche Stimmkraft. Von den vielen kleineren Rollen seien stellvertretend für viele gute Leistungen zumindest drei genannt: Tina Josephine Jäger als lyrisch beseeltes Junges Mädchen, Mark Morouse als kraftvoller Ephraimit und Martin Tzonev als scharf profilierter Priester.

Diese Oper stellt allerdings auch die Regie vor schwer lösbare Aufgaben. Dass Moses, der Protagonist des eingangs zitierten Gottesgedankens, diesen nicht in plastische Worte fassen kann, das liegt ja schwerlich an Moses‘ „ungelenker“ Zunge allein. Es liegt auch am spröden Gedanken selbst, der sich bildhafter Präsenz entzieht. Weshalb Arons sinnliche Rede immer Gefahr läuft, Gottes fundamentale Inkommensurabilität zu entstellen. Vor demselben Problem steht aber auch der Regisseur: Wie soll er beispielsweise Moses‘ Gespräch mit Gott vor dem brennenden Dornbusch darstellen? Wie konkret dürfen die Bilder sein? Wie treu muss die Regie Moses’ Bilderverbot folgen, wie weitgehend darf sie auf Arons Sinnlichkeit setzen? Ausgerechnet in diesen Fragen, und damit in einer Rückprojektion des biblischen Bilderverbots auf seine eigene Inszenierung, findet Lorenzo Fioroni den Schlüssel für seine Interpretation. Und er stellt dabei, entscheidend unterstützt von seinem kongenialen Bühnenbildner Paul Zoller und der phantasievollen Kostümbildnerin Sabine Blickenstorfer, exemplarische „Bilder“ unterschiedlicher ästhetischer Provenienz gleichsam auf die Probe.

Kein Goldenes Kalb, nirgends!

Für Moses‘ Gottesgespräch hat Zoller eine barocke Kulissenbühne in die kugelige Perspektive eines Fisheye-Objektivs gebracht: schwarze Felsenreliefs mit blauem Himmel inmitten, watteweiße Schäfchen umgeben den Schafhirten Moses, dieser selbst (und später sein Bruder Aron) agiert in der Comic-artigen Maske eines orthodoxen Juden wie eine Kasperle-Puppe. Es fällt schwer, hier nicht an eine Parodie zu denken: Die puppenstubenhafte Bildlichkeit ironisiert sich selbst, sie ist ihre eigene Negation.

Die folgenden Volksszenen bringen den ersten ästhetischen Perspektivwechsel, indem sie die Israeliten als feine Bürgergesellschaft des 19. Jahrhunderts in schwarzer Festkleidung zeigen. Fioronis Personenführung folgt nun einem detailgenauen narrativen Realismus, aber auch hier finden sich Momente greller Überzeichnung: Fatsuites entstellen die Figuren, ihre Gesten wirken stummfilmhaft überzeichnet, die Szenen mit Arons „Wundertaten“ werden filmisch grell überblendet (Video: Christian Weißenberger). Den größten Verblüffungseffekt aber serviert Fioroni in den Szenen mit dem Goldenen Kalb: Ausgerechnet da, wo Schönbergs Oper selbst exzessiv bildhaft wird, verweigert Fioroni das Götzenbild, die entsprechenden Szenenanweisungen und Gesangstexte laufen völlig ins Leere. Stattdessen sehen wir, wie Moses, eingesperrt in einem engen Kasten, zum Ikonoklasten wird: Er zertrümmert Versatzstücke der Inszenierung, entdeckt im Gerümpel zwei Farbpötte und erfindet mit diesen die Kunst des Bodypaintings.

Indem er graue und rote Farbe nicht nur auf die Wände, sondern auch sich selbst auf den Leib schmiert, wird sein eigener Körper zur Botschaft, ja, zur „Gesetzestafel“. Und als er schließlich, als Reaktion auf Arons Insistieren auf der sinnlichen Gottesbildlichkeit, die Tafeln zertrümmert, da sticht er sich mit dem Messer in den eigenen Leib. Moses ist gescheitert, Aron hat gesiegt – das ist die Konsequenz aus Fioronis Plädoyer für die sinnliche Kommunikationskraft der Kunst. Und in dieser Lesart ist „Moses und Aron“ keineswegs mehr unvollendet, sondern sehr definitiv am Ende. Damit wagt Fioroni eine ziemlich kühne Kontrafaktur zu Schönbergs Werk. Das Bonner Publikum allerdings war durchaus glücklich damit und applaudierte den musikalischen wie den szenischen Protagonisten begeistert.