Pierre Bokma in „Das große Heft“ am Schauspielhaus Bochum.

Das große Spiel

Ágota Kristóf: Das große Heft

Theater:Schauspielhaus Bochum, Premiere:01.11.2025Regie:Jette Steckel

Jette Steckel bringt Ágota Kristófs dystopischen Roman „Das große Heft“ auf die Bühne des Bochumer Schauspielhauses. Ihr gelingt eine mitreißende, keine Grausamkeit auslassende Umsetzung mit einem großartigen Ensemble.

„Sie spielen nie“, sagen die Zwillinge. Ihre Mutter hat sie zur Großmutter evakuiert, im Land herrscht Krieg. Die Zwillinge erfahren Grausamkeit: von der Großmutter, die sie als Arbeiter ansieht und nicht als Verwandte, und von der Magd des Pfarrers, die einem hungernden Gefangenen absichtsvoll etwas vorisst. Und sie erfahren Sex als böse und korrumpierend: von der Magd, die die Zwillinge wäscht, um sich zu ergötzen, und von der eingeschränkten Nachbarin Hasenscharte, die zu Tode vergewaltigt wird. Daraus folgern die Zwillinge, dass sie sich jeder Empathie, jedem moralischen System, sogar jeder sozialen Bindung verweigern müssen, um sich ihrer Welt und ihren Korruptionen entgegenstellen zu können. Sie müssen „wahr“ sein und schreiben ihre Wahrheiten in das titelgebende große Heft.

Wir sehen zu, wie sie lernen, wie sie betteln oder fasten, um das Leben besser zu ertragen und kennenzulernen. Und wie sie die Konsequenzen aus ihren Gedanken ziehen: Nachdem ihre Mutter einem Bombenhagel zum Opfer gefallen ist, helfen sie ihrer Großmutter – gegen deren Willen – zu sterben. Und sie benutzen ihren Vater als Opfer für den Weg in die Freiheit, den einer von ihnen geht. Denn auch die Bindung der Zwillinge ist eine soziale.

Gruppenbild mit vier Zwillingen und Großmutter (Pierre Bokma) aus dem „grossen Heft“ in Bochum.

Vier Zwillinge und die Großmutter: v.l.n.r. Ole Lagepusch, Guy Clemens, Pierre Bokma, Line Dercon, Risto Kübar Foto: Armin Smailovic

Quadratur des Kreises

Jette Steckel hat nun die Fabel des Romans „Das große Heft“ von Ágota Kristóf aus den 80er-Jahren in Bochum auf die Bühne gebracht. Ihr gelingt eine Art Quadratur des Kreises: Weder bekommt man Mitleid mit den namenlosen Zwillingen, noch ekelt man sich vor ihnen. Man sieht einfach objektiv zu. Im Buch leistet genau das die minimalistische Sprache Kristófs; auf der Bühne sind der magische Rhythmus der Aufführung und das genaue Spiel in Körper und Sprache dafür verantwortlich.

Pauline Hüners hat die fünf Spieler:innen am Anfang in heutige, blassblaue Hoodies gewandet; darunter tragen sie weiße Hemden und kurze schwarze Hosen. Sie spielen die Zwillinge zusammen und gestalten mit fließenden Kostüm- und Figurenwechseln die anderen Personen der Handlung: die Großmutter (Pierre Bokma), die Mutter (Linde Dercon), den Vater, den Pfarrer und Hasenscharte (alle: Risto Kübar), Hasenschartes Mutter (Ole Lagerpusch) und die Magd (Guy Clemens). Sie spielen also im engeren Sinne keine Rollen, erzählen aber wohl eine Geschichte.

Unterstrichene Wörter und Körper

Steckel inszeniert das Stück eigentlich als Kammerspiel mit vielen leisen Tönen, aber das grelle Licht von Bernd Felder und die Live-Bühnenmusik von Matthias Jakisic und Karsten Riedel – laut, durchaus angenehm, aber frei von jeder Sentimentalität – blasen es zur Schauspielhaus-Größe auf. So werden die Worte und besonders die Körper gleichsam unterstrichen; man sieht sie tatsächlich deutlicher. Ein besonderer Wurf ist das Bühnenbild von Florian Lösche: ein Quadrat aus Staub und Erde, mit einem Lichtrahmen abgegrenzt, oft mit senkrecht stehenden Metallstäben besetzt – wie Speere ohne Spitze, die nach oben verschwinden, aber auch Kirchenglocken, eine Dusche oder eine Feuerstelle darstellen können. Ein schlagendes Bild für Gewalt, Krieg und die Verengung des Lebens.

Das Spiel beginnt harmlos, mit Brechts „Pflaumenbaum“ in einem fast lustigen A-cappella-Ensemble, vielleicht als Hinweis auf Brechts Theorien nicht nur über das Theater. Schnell wird es ernst und geht immer weiter, ohne Pause, ohne Ruhe. Aber es endet mit dem Gang von Ole Lagerpusch in den Zuschauerraum zu „I Am Coming to Paris (To Kill You)“, einem zugespielten Song der Band Timber Timbre – ein ruhiger Song, mit sehr ruhiger Stimme vorgetragen. So entlässt das Schauspielhaus Bochum sein Publikum nach einer großen Aufführung sanft ins Heute.

Schlussbild: Zwilling (Ole Lagerpusch) und die Leiche das Vaters (Risto Kübar).

Der Zwilling (Ole Lagerpusch) über der Leiche des Vaters (Risto Kübar)

„Sie spielen nie“, haben die Zwillinge gesagt. Aber das stimmt nicht ganz. Das erste Wort der Inszenierung, ganz für sich gesprochen, von Guy Clemens, lautet: „Theater“. Und das wird gespielt auf der Bochumer Bühne – besonders virtuos und glanzvoll, weil es ja um Menschen geht, die nicht spielen. Das Ergebnis: ein wirklich großes Spiel.