"Rübezahl und der Sackpfeifer von Neiße" in Gera

Bildungsmisere bei Berggeistern

Hans Sommer: Rübezahl und der Sackpfeifer von Neiße

Theater:Theater&Philharmonie Thüringen, Premiere:18.03.2016Autor(in) der Vorlage:Eberhard KönigRegie:Kay KuntzeMusikalische Leitung:Laurent Wagner

Nach anderen Glanz-Trouvaillen punktet das Musiktheater Altenburg-Gera erneut mit einer super-spannenden Entdeckung aus dem frühen 20. Jahrhundert. Mit derartigen Ambitionen ist es bald vorbei, wenn (nach Abbau von 74 Orchesterstellen seit 1990) die weitere Abstufung auf 66 Musiker erfolgen sollte. Ostthüringens Kulturenthusiasten wehren sich mit einer Postkartenaktion an Aufsichtsrat Wolf und Staatsminister Hoff – Mitstreiter gesucht! Es geht um viel, betrachtet man die Wahlergebnisse wenige Kilometer weiter in Sachsen-Anhalt – also um viel mehr als den Erhalt dieser hochkulturellen Hoffnungsperle.

Kurz nach einer CD-Veröffentlichung mit Werken von Braunfels erfuhr in Gera die komplexe Partitur „Rübezahl“ des Mathematikers und Spätromantikers Hans Sommer (Uraufführung im Hoftheater Braunschweig am 15. Mai 1904, nachgespielt nur in Berlin und Weimar) eine kraftsprühende Wiedergabe. Ausschließlich Ensemble in den komplexen Parts und deshalb erst Recht von Beifall umrauscht.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit musikdramatischen Wiederentdeckungen der neudeutschen Schule um 1900. Von Leipzig und noch weiter angeflutete Wagnerianer können sich genüsslich ergötzen in Wissenswetten über die Aufbereitung von Namen, Klang und Wiedergängerart der Ideen ihres Bayreuther Meisters. Da macht Bildung Spaß, ist aber nur die halbe Miete. Oder man kann sich an der Farbenfülle und dem Kaleidoskop der symbolistischen Vielfalt erfreuen: Das ist etwas anstrengender und viel bunter.

Generalintendant Kay Kuntze und sein bewährter Ausstatter Duncan Hayler kommen auf einen erfreulich anderen, pfiffigeren Kunstgriff und erschließen, sofern sich das in der richtigen Szene herumspricht, auch neue Besuchergruppen. Das akustisch und visuell schillernde Gewaltmärchen bereiten sie genregerecht und gegenwartstauglich auf. Und sie spielen ganz wunderbar mit den Kulturgedächtnissen der verschiedenen Generationen. Davon zum guten Schluss.

Der Textdichter Eberhard König und Hans Sommer, zuerst mit etwas Skepsis gegen den Autor, bliesen die Quelle, das bereits für „Freischütz“ und „Black Rider“ als Inspiration dienende „Gespensterbuch“ von Apel und Laun, zum tönenden Ästhetikdiskurs über Kunst und Leben auf: Der Maler Wido beteiligt sich – gegen den Rat des Berggeistes Rübezahl – am Aufstand gegen den bös-verhärteten Vogt Buko von Neiße, dessen Ziehtochter Gertrud er liebt. Rübezahl ergreift als Stadtpfeifer in Gestalt des Vaters von Zidos Mitstreiter Bernhard Kraft Partei für die Liebe des Paars und seine Vereinigung. In einer furiosen Geisterstunde kommt Buko durch Tote aus den Gräbern um.

Mehr noch als Richard Strauss‘ Orchesterflimmern in „Feuersnot“ erscheint hier Sommers Anspruch, Richard Wagners mythische Unbedingtheit, von Cosima um 1900 mit Chauvinismus forciert, durch Märchenschöpfungen zu enthebeln. Der Wille zur tiefen Botschaft tritt klarer hervor als etwa in den trügerisch pseudonaiven Opern Humperdincks und Siegfried Wagners, dessen Humor und Esoterik der von Sommer verblüffend gleicht. Der komödiantische Ton von Gertruds Magd Brigitte bricht wie der Part Rübezahls die Schwere und zieht das Werkkolorit in Richtung Volksstück und Naturalismus.

Aus Brüchen des Sujets ebenso wie denen seiner Musik. Wichtiger als die Motivfetzen (unter ihnen der derbe Walzer wie aus dem „Evangelimann“ und das der „klappernden Mühle am rauschenden Bach“ nachempfundenes Rübezahl-Motiv) ist die Zuweisung von Assoziationen aus „Ring“, „Parsifal“ & Co. auf Konstellationen in „Rübezahl“. Der Orchestersatz lichtert abendfüllend zwischen „Totalität“ und „Filigranität“. Laurent Wagner holt das schon in der Premiere in bestens gelingender Feinabstimmung aus der Philharmonie. Und es ist sehr schön, wie das Orchester die Solisten befeuert, ohne sie zu gefährden. Auch die tragen bei zu dem Eindruck, dass die Partitur in Gera möglicherweise noch besser klingt als sie eigentlich ist. Dieser tönende Enthusiasmus mit Totaleinsatz aller Kräfte auch hinter den Kulissen macht die Entdeckung zu einem Höhepunkt der Spielzeit im gesamten deutschsprachigen Raum.

Wer eine der ganz raren deutschen spätromantischen Choropern sucht, da ist sie! Der mit Gästen eindrucksvoll aufgedonnerte Chor kristallisiert den Aufstand – Vorbild für Humperdinks „Königskinder“, machtvoll wie Vollmers nächtliches Heer in „Gurrelieder“ – und dazu den „danse macabre“ auf dem Friedhof. Klangschön, laut und deutlich (Leitung: Holger Krause).

Maler Wido hat den freien Oberkörper pastellfarben, als sei er sein eigener Pinsel. Er wälzt und kratzt in Kunst- und Liebesnöten über die Spielschräge, eine raumfüllende Palette. Die tolle und intelligente Energie von Hans-Georg Priese kommt nur in wenigen tenoralen Höhenkillern der Partie an verzeihliche Grenzen. Anne Preuß darf im weißen Erlöserinnenkleid wallen wie Brünnhilde. Eine echte wird sie vielleicht noch, die Stimme flutet in Richtung dramatisches Fach und macht Lust auf ihre Chrysothemis und sogar Mona Lisa… Jueon Jeon als Zidos Gefährte Bernhard Kraft glänzt mit schlank-virilem Tenor und ist erste Wahl für diese Fachpartie in zweiter Reihe. Johannes Beck im schwarzen Nietenleder-Wams mit weißblondem Schmierscheitel zeigt mit vokaler Kontur die Anstrengung, ein Bösewicht zu sein. Sogar im Zwiegespräch mit Rübezahl in Gestalt des Stadtpfeifers von Neiße fächert er die Schwarz-Weiß-Kontraste differenzierend auf.

Teils in Doppelrollen glänzen mit akzentuierter Spannweite zwischen Hamlets Totengräber und Gerhart Hauptmanns Proletariertypen Marja Mäkela, Alexander Voigt, Kai Wefer, Xiangnan Xao und der stumme Knabe in finaler Pantomime Adrian Pinquart als „Erlöser von Neiße“. 

„Hilf zu, Rübezahl!“: Wenn es einen deutschen Bass-Bravourpart gibt wie Boitos „Mefistofele“ oder Massenets „Don Quchotte“, dann ist das dieser. Sommer verzweifelte an der Besetzung und wäre beglückt über Magnus Piontek. Der junge Bass kann das alles: In den Verkleidungsszenen das vokale Scherzo, als Beherrscher der Geister die Cantante-Linie, in den Deklamationen der ersten Erscheinung die Beschwerden über die Bildungsferne seiner Geister und im Finale die Klage über die unveränderliche Unbelehrbarkeit aller Menschen. Zuviel verlangt wäre, da noch koboldhafte Farb- und Schattenspiele des Edeltimbres zu fordern. Ist es Pionteks oder Sommers kreative Potenz, dass man mehr an Kühleborn in allen „Undinen“ und Max von Schillings‘ „Pfeifertag“ denkt als an Bayreuth…?

Kay Kuntze und Duncan Hayler schlugen den freudigen Anwesenden ein Schnippchen à la Rübezahl: Es gab phantastischen Kostümaufputz mit reichlich Glanzlame, schwarz vermummte Geisterlemuren und in der Verständlichkeit fördernden Personenaufstellung ganz viele Wagner-Retroreflexe à la MET und Pseudomoderne. Gewiss nicht aus kreativer Not: Die Köpfe dieser Produktion zeigen in der genresprengenden Auseinandersetzung einfach Versiertheit mit Emanationen der Tolkien- und Manga-Szene, haben schon früh und intelligent bei „Primalgames“ usw. auf der Leipziger Buchmesse spioniert. Respekt: Das ist eine überzeugende Alternative, um den bipolaren und oft kruden Ideenballast des deutschen Fin de siècle neu zu beleben und gleichzeitig Anreize für eine schärfere Analyse zu generieren. Das hätte im Erstkontakt mit der Überfülle dieser Phantasmagorie und ihrer Aussage zur historistischen Kunstphilosophie auch überfordert.