Foto: v.l.n.r.: Konstantin Rickert, Thomas Braus, Alexander Peiler, Luise Kinner © Uwe Schinkel/Schauspiel Wuppertal
Text:Andreas Falentin, am 25. Juni 2020
Ohne das unsere Zeit bestimmende Virus hätten wir möglicherweise nie erfahren, dass man Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ bezwingend in 75 Minuten erzählen kann. Auch wenn hier wohl das Hygienekonzept des Schauspiels Wuppertal, das im kleinen Theater im Engelsgarten wohl schlicht keine Pause gestattet, Pate gestanden haben mag: Jakob Fedler ist eine außerordentlich dichte Aufführung gelungen.
Wobei das Verb „erzählen“ dem Bühnengeschehen in Wuppertal vielleicht nicht ganz gerecht wird. Schon die Textfassung ist eher auf die Beschreibung eines Zustands als auf die Vermittlung einer Handlung aus. Hier wird auf zwei Ebenen eine Krise beschrieben: Der ausgehöhlte, aus dem nationalen Kontext gelöste amerikanische Traum eingehüllt in die Erosion der Institution Familie. Viele Handlungsmotivationen sind gestrichen, darunter sogar die eigentlich wesentliche für das Verhältnis von Willy und seinem Sohn Biff: Der Ehebruch des Vaters. Auch die vielen Zeitsprünge werden weder ausgestellt noch vermittelt. Der Bruder Ben, die zentrale Figur der Rückblende-Sequenzen bei Miller, kommt nur in Willy vor und tritt nicht auf. Dazu setzt sich die Inszenierung auf verschiedenen Ebenen explizit von jeder Realismus-Idee ab: Etwa durch die Besetzung der Ehefrau und Mutter Linda durch die dafür eigentlich „viel zu junge“ Luise Kinner oder durch das abstrahierend schmucklose Bühnenbild von Dorien Thomsen: vorne eine Reihe Ledersofas, hinten, genauso in Reihe, angedeutete Regale (oder Doppelstock-Betten), alles in braun, dazwischen das große Nichts und ein silbriger Showvorhang (ein Bild für Selbstbetrug?) und vorne rechts ein überlebensgroßes Bild von Marilyn Monroe als historische und geographische Einordnung. Angespielt wird es nicht.
Am Anfang steht Thomas Braus als Willy Loman einfach da, im grauen Anzug über braunem Pullunder und weißem Hemd, aufrecht und doch bereits sichtbar ein gebrochener Mann, ausgemergelt und verloren, unrettbar in sich, seinem Selbstbild, seinen Träumen gefangen. Zusammen mit seiner Frau (Luise Kinner als Energiezentrum, hart die eigene Naivität bewahrend, eine kraftvolle und erfolglose Versöhnerin) und den beiden Söhnen bildet er von Anfang an eine hoffnungslose Familiengemeinschaft, die Willy unrettbar vergiftet hat mit seinen hochfliegenden Träumen bei gleichzeitigem insistierenden Sich-Klein-Machen. Happy (Konstantin Rickert mit einer passgenauen Charakterstudie) ist ein selbstbezogener Funktionierer und Verweigerer geworden, Biff (Alexander Peiler spielt ihn mit schöner, grader Energie) hat hier schlicht die großen Erwartungen des Vaters nicht verkraftet und sieht sich als Komplettversager. Das ist die Exposition. Danach wird es schlimmer. Weil keiner Verantwortung für sich und die anderen übernehmen kann. Weil alle nur entweder wegwollen oder dableiben. Aber nicht wirklich gemeinsam leben. Nicht einmal jeder für sich.
Als Willy dann einmal, angestachelt von Linda, doch aufbegehrt, entlässt ihn sein Chef (Kevin Wilke). Weil er es schon lange wollte, aber zu träge war und sich keine Gelegenheit ergab. Die andere Seite macht es also auch nicht besser. Eine Rettung könnte nur Charlie sein, der integre, erfolgreiche Nachbar (also eine komplett fantasmagorische Figur). Er hilft Willy immer wieder finanziell aus und bietet ihm einen ruhigen Job an, den er mit all seiner Erschöpfung bewältigen und aushalten könnte. Als Willy ablehnt, weil er seine Freiheit, die er nie hatte, nicht verlieren will, legt Kevin Wilke, der auch den Charlie spielt, passgenau Willys Lebenslügen und -pläne bloß. Durch die vielen Kürzungen wird diese Szene zum Dreh- und Angelpunkt des Textes. „Warum willst Du denn unbedingt beliebt sein?“ Keine Antwort.
Manchmal geht man kurz verloren im traditionellen Wortgeklingel, manchmal stört man sich kurz an der Überbewertung des Schreiens als Ausdrucksmittel. Dennoch trifft die Aufführung ins Zentrum. Der Mangel an sozialem Zusammenhalt im Kleinen wie im Großen, den Miller hier genauso diagnostiziert wie die Unfähigkeit, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen, ist in den 70 Jahren seit der Uraufführung nicht alt geworden, scheint, im Gegenteil, sogar besonders gut in unsere Zeit zu passen.
Jakob Fedler und sein starkes Ensemble haben das klug dokumentiert. Es ist ihnen sehr zu wünschen, dass bei der Wiederaufnahme dieser „nicht öffentlichen Premiere“ im Oktober wieder mehr als 25 Menschen die Vorstellungen im Theater am Engelsgarten besuchen dürfen.