Foto: Szene mit Anna Nigulis, Lina Hoppe, Benjamin Nowitzky und Johannes Schumacher © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 26. August 2016
Vielleicht hatten sie die Fit-for-fun-Lebenslügen einer selbstoptimierungsverrückten Gesellschaft einfach satt. Wollten nicht zum Verwechseln gewöhnlich sein. Vielleicht konnten sie aber auch einfach nicht mithalten. Und wurden dank Frustessen geradezu sinnbildlich: übersatt. Aber die Kinder erzählen in Anne Leppers „Seymour“ nicht, warum, wieso, weshalb sie mehr gefuttert haben als andere und ihr Stoffwechsel körperweit Vorratsspeicher mit Fetteinlagerungen überquellen lässt. Sie erklären nur: Ihr Aussehen werde als „falsch“ wahrgenommen. Laut Mehrheitsmeinung gelten sie als zu dick. Ein Todesurteil.
Durch dünnere, schlauere Adoptivbälger ersetzen die Eltern ihre Pummelkinder – entsorgen sie in ein Sanatorium auf dem Zauberberg der Verschlankungsverheißung. Ein Gefängnis. So mutet die schwarz getünchte Raumbühne des Bremer Moks-Theaters für die Neuninszenierung des Erfolgsstücks an. Die fünf Internierten üben sich im Glauben an die Versprechen der Eltern und Anstaltsleitung: Gelingt das Formatieren gemäß der Schönheits-DIN-Norm, dürfen die Kinder sich wieder verdünnisieren, also zurückkehren in den Schoß der Familie, der Gesellschaft.
In dieser Hoffnung tun sie gutwillig naiv alles, was man ihnen sagt. Strengen sich an, strengen sich doppelt an bei absurden Liege- und Baumelübungen der Kur und schwitzen leidvoll bei der Zappeltanzgymnastik. Anschließend wird mit Zwiebackkrümeln geduscht. So verweist Regisseurin Babett Grube auf die Trostlosigkeit der Situation. In der Textvorlage ist noch von Kuchenorgien die Rede.
Mit grotesk tragikomischen Typen in Fat-Suits gingen bisherige „Seymour“-Inszenierungen den wahnwitzigen Befreiungskampf aus der Leibesfülle an und wollten gleichzeitig die Nöte des Frühlingserwachens erblühen lassen. Suchen die Kinder doch auch nach sexueller Identität, wollen mehr wissen von der Welt, liebenswert werden, keimendes Begehren ausleben, hungern nach Berührungen und sozialer Anerkennung. Sind dabei aber völlig auf sich allein gestellt – finden nie als Gesprächs-, Zärtlichkeits-, Kuss-, Sexpartner zusammen. Lepper beschreibt kugelrundes, verzweifelndes Taumeln durch eine eckige Welt nicht hinterfragter Regeln – und wie man sich gleichzeitig tapfer der Pubertät stellt.
Diesen Balanceakt zwischen satirischer Zuspitzung und sympathisierender Einfühlung vermeidet Grube. Und malt „Seymour“ als melancholisches Bild einer Generation aus, die dem „Empört euch!“-Aufruf Stéphane Hessels ratlos an sich vorüberdonnern lässt. Immer mal wieder entkleiden sich die Darsteller, stellen also ihre wattierte Fettleibigkeit aus – als Kostüm. Sie haben das Problem Übergewicht nur angezogen. Um Grundsätzliches zu zeigen. Nämlich dass sie die Axiome und scheinheiligen Lehrsätze des Kapitalismus bereits so weit verinnerlicht haben, dass eine gesellschaftliche Autoritätsperson gar nicht mehr leibhaftig auftauchen muss, um Gehorsam einzufordern.
Der fremdbestimmte, zu Kopfe gestiegene Kinderglaube besagt, dass überschüssige Lebensenergie zwecks Disziplinierung nutzlos zu vergeuden sei. Nur so werde man normal erfolgreich, normal zufrieden, wie ein Junge sagt. Der die Tristesse dieser Lebensperspektive sogleich erkennt – und sich erhängt. Ein von allen vergötterter, weil superschlank dem Schönheitsideal entsprechender Jüngling liegt die Aufführung über unter einem Leichentuch – bereits entseelt, als Skelett. Überanpassung bedeutet Tod. Und so wird auch ein Kinderausflug in die Natur zur hörspielend aus dem Theaterfoyer übertragenen Reise ans Ende aller Tage, eine angstvolle Begegnung mit der Endlichkeit.
„Wenn Punkmusik zu hören gewesen wäre, hätte sich in den Herzen vielleicht was formiert, Widerstand zum Beispiel, gemeinsamer Widerstand mit Tendenz zu Gewalt, aber es war keine Punkmusik zu hören.“ In dieser Sentenz vereint sich Leppers Text mit Grubes Regieansatz. Der deutlich besser ist als die Inszenierung. Prima noch das Bühnenbild Léa Dietrichs. Auf den Metallbetten eines Schlafsaals nimmt das Publikum dieser Jugendtheaterproduktion Platz. Dort, wo die Darsteller spielen. Es geht also um uns. Aber eine Interaktion mit den Zuschauern findet kaum statt, sie werden nicht in die Rituale der Abrichtung hineingezogen. Gedanklich auch nicht zur Positionierung inspiriert. Die Spielintensität ist äußerst mau – im Vergleich zu anderen Arbeiten Grubes.
Viele Textpassagen klingen wie aufgesagt. Lautstärke kommt auf Stichwort, nicht aus der jeweiligen Situation. Wenn auch sinnhaft immer dann, wenn es heißt: „mach mal was“, „man muss doch mal aufstehen“, wehr dich usw. Aber die Heftigkeit wird gleich in Aussichtslosigkeit ertränkt. Der revolutionäre Geist ist nie als etwas Positives, eher als hysterischer Ausbruch erlebbar. Es fehlt der brachliegenden Wut eben das Ausdrucksmittel Punk. So gleicht die Aufführung einem Tim-Bendzko-Song.