Foto: Szene aus „Flut, ein Tanzprojekt zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven” © Joris Jan Bos
Text:Verena Blatz, am 6. September 2021
Emanuele Soavis „Flut“ war bereits für Ludwig van Beethovens 250.Geburtstag geplant, nun kam die Uraufführung mit einem Jahr Verspätung, nach langer erzwungener Pause, endlich auf die Bühne.
Das Stück ist dreigeteilt: Es beginnt mit einer schwarzen Guckkasten-Bühne, einige Bühnenbildteile stehen an den Seiten, noch nicht erkennbar, wozu sie dienen sollen. Eine Cellistin (Anja Schröder) sitzt am Bühnenrand, die Tänzer*innen tragen weiße, transparente Kostüme, zeitlich nicht einzuordnen. Die Musik ist elektronisch und technoid (Komposition und Sound: Stefan Bohne und Wolfgang Voigt) mit Versatzstücken aus Beethovens Kompositionen, die Anja Schröder wie Rufe aus der Vergangenheit spielt. Die Tänzer*innen tragen die gleichen Kleider und wirken alters- und geschlechtslos. Wie kraftvolle Elfen bewegen sie sich durch den Raum, gefangen in unendlichen Drehungen und gleichzeitig im Kontakt zueinander. Bald vollziehen sie eine Entwicklung, verlieren ihre Röcke und tanzen jetzt in weißen Shorts mit verändertem Bewegungscharakter – manche in einem sportlichen Pas de deux, andere wie am Boden kriechende Tiere, während uns das harte Zupfen des Cellos Beethoven zunächst vergessen lässt.
Im zweiten Teil ist der Komponist dann wieder sehr präsent, in Form eines Streichquartetts in e-Moll, das in unmittelbarer Nähe der Tänzer*innen gespielt wird. Das Bühnenbild zeigt jetzt eine Hausfassade, die genauso nackt wirkt wie der Tänzer davor. Dieser zweite Teil des Triptychons verhandelt Identitäten, Gefühle und ist so detailreich, dass einem fast schwindelig wird und man sich im Puppentheater wähnt: Menschliche Köpfe gucken an unerwarteten Stellen aus dem Haus, Körperteile verschiedener Tänzer*innen ergeben zusammen einen „neuen“ Körper. Drei Männer tragen ihre Jacketts so, dass sie zu einer Person werden und einer hat plötzlich sechs Arme und in jeder Hand ein Blatt Papier. Die Bewohner benutzen nicht die Tür, um ins Haus zu kommen, sondern finden neue Wege, um hineinzugelangen. Wer das Haus durch die Tür verlassen möchte, findet sie durch Bretter versperrt. Die Hauswände beengen die Tanzenden in ihren Bewegungen, in ihrem Sein. Schließlich werden die Bretter zum Luftzufächern eingesetzt: Nicht nur der Lebensraum ist knapp, auch die Atemluft scheint begrenzt.
Damit kommt unübersehbar der pandemische Zeitgeist in die Inszenierung, unsere Enge der eigenen vier Wände und die Luftnot unterm Mundschutz in den letzten anderthalb Jahren. Das verrückte Puppentheater indes geht weiter und den Verliebten wird, inmitten ihrer Umarmung, die Bank, auf der sie sitzen, abgebaut.
Schließlich führt im dritten Teil eine lange Straße von den Zuschauenden weg hin bis zu einer Tür am Ende des Bühnenraums. Neben der Bühne sitzen die Duisburger Philharmoniker, spielen Beethovens Symphonie Nr. 7 in A-Dur. Die Tänzer*innen erscheinen nach und nach aus der Tür, kommen uns entgegen, vollführen die Inszenierung ihres Auftritts per se. Während schon der zweite Teil einen Strudel freisetzte, folgt hier eine noch größere Welle überschäumender, junger Energie. Klassik trifft Street Dance: Eine jugendliche Gang rennt umher, es herrscht Partystimmung.
In dieser „Flut” wird Beethovens fast 250 Jahre alte Musik so fantastisch in modernen Tanz umgesetzt, als gäbe es keine zeitliche Entfernung zwischen Komposition und Choreographie. Musik wird Bewegung.