Aber da hatte man noch Hoffnung. Funzelten da nicht, den Illusionismus kalt leuchend konterkarierend, schnöde Neonröhren über der dämmerigen Felsenwildnis? Stolperte nicht Parsifal im Straßenanzug durch dieses Grals-Oberammergau, Sendbote einer anderen, heutigen Welt? Und hatte es nicht auch Szenen gegeben, in denen Stölzl die Handlung zwar wörtlich nahm, aber eben so wörtlich, dass es doch wieder irritierend war? Die Flagellanten-Szene zu Beginn der Grals-Zeremonie etwa, getreu Parsifals Wort von den Brüdern, die „in grausen Nöten den Leib sich quälen und ertöten“. Auch sonst gab Stölzl Hinweise, wie dumpf-gewalttätig es in der abgeschlossenen Glaubensbrüderschaft der Gralsritter zugeht, sobald einer aus der Reihe tanzt oder Schwäche zeigt. Der von seinem Filmschaffen (Musik-Videos, Werbespots, „Nordwand“) her effektgewandte Regisseur, so wähnte man da noch, er werde gewiss irgendwann das Steuer herum- und die hübsche Fassade einreißen, auf dass die Tiefen der „Parsifal“-Deutung gähnend aufklaffen.
Vorerst allerdings war’s nur zum Gähnen, und das änderte sich auch in Klingsors Zaubergarten nicht wirklich, den Stölzl als Fantasy-Szenerie mit Ethno-Bordell vor heidnischer Tempelfassade zeigt. Klingsor tigert als schwarzlederner Zottelschamane herum und beginnt seinen Arbeitstag mit einem Menschenopfer nach alter Azteken Sitte. Die Blumenmädchen verbergen ihre florale Erotik-Underware einstweilen unter weit wallenden Hexenmänteln. Nebel wallt und Blutkult waltet, bis Parsifal dem Treiben nicht weniger blutig ein Ende macht. Heilige Einfalt, dachte man, da bereits leicht resignierend: Was wird denn jetzt noch kommen?
Und es kamen: Regieeinfälle. Aufzug drei zeigt die Felslandschaft im fortgeschrittenen Verfall, Alltagsmenschen in Alltagsklamotten bevölkern die Ruinen. Ist man also im Jetzt angekommen, und war Parsifal bereits am Anfang im Straßenanzug ins Krippenspiel hineingestolpert, weil eben das seine Sendung sein sollte: eine alte Botschaft in die Gegenwart hineinzuholen? Aber welche Botschaft denn nur? Zwei Akte lang hatte man wenig davon gesehen. Und bei diesem Finale verzettelt sich Stölzl derart in hanebüchenen Einfällen (verweigert beispielsweise Kundry die Fußwaschung Parsifals und auch die Taufe, weil ihre Sinnlichkeit offenbar auch jetzt noch eine Bedrohung des Helden darstellt), dass man wirklich nicht mehr weiß, was er eigentlich erzählen will. Und das war dann doch – ein Armutszeugnis.
Der musikalische Chef der Produktion (und GMD des Hauses) fand vor den Ohren des Publikums mehr Gnade, und man kann auch hier verstehen, warum. Seine „Parsifal“-Interpretation mit dem farbenreichen, in den Bläsern allerdings nicht immer lupenrein musizierenden Orchester ist effektbewusst und geprägt von erkennbaren Absichten. Der Bogen eines Gesamtentwurfes allerdings fehlt ihr. Den ersten Akt nimmt Runnicles teils quälend langsam, man möchte unterstellen, dass dies die Qual der depravierten Gralsritterschaft abbildet. Dann aber ist es irritierend, dass das Orchester bei Gelegenheit immer wieder so blechgepanzert martialisch und selbstgewiss dröhnt: ein markanter Effekt, aber interpretatorisch unmotiviert. Stark gelingt die emotionale Konfrontation zwischen Parsifal und Kundry im zweiten Akt: mitreißendes Musiktheater!
Woran die beiden Protagonisten entscheidenden Anteil haben: Klaus Florian Vogt und Evelyn Herlitzius sind ja denkbar gegensätzliche Sängertypen. Vogt singt den Parsifal mit einer schier entwaffnenden Souveränität, auch wenn das Strahlen der Höhe ihm sicher eher liegt als die Tiefen der Partie. Er setzt sich mühelos gegen das Orchester durch, Fokus, Attacke und Artikulation sind vorbildlich, und die chromatische Unwandelbarkeit seines Tons passt wunderbar zur unverwüstlichen Unschuld des reinen Toren. Evelyn Herlitzius dagegen erschließt sich ihre Partie ganz über die Expressivität und die schauspielerische Intensität – das aber so mitreißend, dass ihr flackerndes Vibrato, ihre bisweilen spröde Attacke und grelle Höhe einfach keine Rolle spielen, auch wenn sie natürlich keineswegs lupenreine Kunst sind. Wie diese beiden Sänger in der Verführungsszene zu fesselnd ausgesungener interpretatorischer Gemeinsamkeit finden – das ist ein großes Erlebnis!
Und noch einer liefert eine Interpretation von bannender Ausdruckskraft ab: Thomas Johannes Mayer als schlanker, dunkel lodernder Amfortas. Heftig bejubelt wurde auch Matti Salminens Gurnemanz, und ja: er kann wahrlich markig auftrumpfen, auch seine Figur hat expressive Kontur. Aber die verschliffene Artikulation, sein sprödes Timbre sind in manchen Passagen eine Beeinträchtigung. Thomas Jesatko ist als Klingsor vor allem laut, das allerdings sehr. Albert Pesendorfer gibt einen kraftvollen Titurel, kleinere Partien wie Ritter, Knappen und Blumenmädchen sind bemerkenswert gut besetzt. Und auch der von William Spaulding vorbildlich einstudierte Chor gehört zu den großen musikalischen Protagonisten dieser Produktion, der die Gralsszenen zu Glanzpunkten eindrucksvoll gefügter Klangarchitektonik macht. Diese Besetzung zu hören: das lohnt dann doch einen Besuch in Berlin!