Bei der Uraufführung 1651 war „La Calisto“ von Francesco Cavalli, dem Meisterschüler Claudio Monteverdis ein Reinfall. 1970 wurde das Stück dann nach über 300 Jahren für das Glyndebourne-Festival ausgegraben und wird seitdem immer wieder einmal aufgeführt. Die Aachener Inszenierung von Ludger Engels belegt strahlend, warum.
Die Handlung wandelt vor allem auf erotischen Pfaden und bedient sich einer Episode aus Ovids „Metamorphosen“. Was uns heute vor allem interessiert, ist das Menschen- und Gesellschaftsbild. Die Filterblase scheint nämlich tatsächlich keine Erfindung des 21. Jahrhunderts zu sein. Mit einer Ausnahme definieren sich in „La Calisto“ alle Figuren eindeutig über ihre Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Gruppen. Deren Zentrum kann ein Star sein (Jupiter, Diana, Pan), ein Ort (der Wald für Pans Gruppe), eine Idee (Keuschheit bei Diana und den Nymphen), ein Status (die Götter) oder eine Lebenseinstellung (benennen wir sie euphemistisch: toxische Männlichkeit). Dem entgegen steht der Entfaltungsdrang jedes einzelnen Individuums. Da wird dann logischerweise auch mal versucht, die selbst gesetzten Grenzen zu sprengen.
Anders gesprochen: Ludger Engels zeigt uns „La Calisto“ als eine von Eitelkeit, Gier und Ideologie getriebene Welt und zwar so leichthändig, elegant und intensiv, dass uns der nur und ohne Hintergedanken die Göttin Diana liebende, allein in der Welt stehende Endymion im Laufe der Handlung immer sympathischer wird – natürlich auch weil James Laing ihn mit etwas kleinem, aber hochmusikalisch geführtem und differenziert und ausdrucksstark eingesetztem Countertenor hervorragend singt und die barocken Affekte mit unaffektiertem Spiel sanft und nachhaltig belebt. Und weil er einfach Hemd und Hose anhat (und hübsche rote Locken). Alle anderen Figuren nämlich werden von dem jungen, hoch talentierten Raphael Jacobs kostümiert, als gelte es mindestens einer prominenten Modenschau. Allein Diana ist in vier prachtvoll-schrille Roben gewandet, von der man eine, am Ende des zweiten Aktes, sogar nur sekundenlang sieht. Bezugsgröße für Jacobs waren offenbar neben der Jetzt- und der lustvoll ausgebeuteten und ironisierten Barock-Zeit die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Fanden hier doch gesellschaftlich gebrandmarkte Außenseiter erstmals so richtig zu Gruppen zusammen, sei es nun wegen Gender-Dispositionen oder verschiedener Arten von Rebellengeist oder System-Devotion, die in ersten, manchmal sogar getanzten, unter dem Begriff Voguing bekannten „Battles of Realness“ gipfelten. Diese haben mit Sicherheit die ersten beiden Aktfinals inspiriert, in denen sich die verschiedenen Gruppen der Handlung tanzend präsentieren, originell und timingsicher choreographiert von Ken Bridgen, der es vermag, Gruppen eine Bewegungssprache zu verordnen und gleichzeitig die individuelle Körpersprache jedes einzelnen der zwölf Mitwirkenden für das Bühnengeschehen produktiv zu machen.