Va, pensiero, sull’ ali dorate: Zieht Gedanken auf goldenen Flügeln … zu den Ufern des Jordans. Die Israeliten erinnern sich in der babylonischen Gefangenschaft mit dem berühmten Chor sehnsüchtig an ihre weit entfernte Heimat. Bei Kirill Serebrennikov laufen dazu Videos ab, auf denen man in traurige Gesichter von heutigen Flüchtlingen blickt, darunter viele Kinder. Der Staatsopernchor zieht sich bei diesem Gefangenenchor langsam in den Hintergrund zurück, und Flüchtlinge, die in Hamburg leben, treten allmählich nach vorn. Später singen diese Flüchtlinge als Projektchor „Nabucco“ den Gefangenenchor nach einmal – in einer Umbaupause zwischen zwei Bildern. Recht eindrücklich, dennoch: Es wirkte an dieser Stelle doch als ein bisschen zuviel. Denn schon zuvor hatte in jeder Umbaupause der Oud-Spieler Abed Harsony allein und/oder mit der Sängerin Hana Alkourbah ergreifende Lieder aus Syrien gesungen, über die Heimat im Herzen. Dazu wurden jedes Mal erschütternde Kriegsfotos des mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten russischen Journalisten Sergey Ponomarev gezeigt. Ein Kontrast, der zu Verdis Musik eine Spannung erzeugte, der aber eben eine Spur überzogen wurde. Aus dem Publikum waren Äußerungen zu vernehmen wie „Nicht schon wieder!“ oder „…wir sehen selbst die Tagesschau“.
Kirill Serebrennikovs „Nabucco“ spielt im Sitzungssaal des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Da stehen sich die Integrationsbefürworter um ihren Führer Zaccaria und die assyrischen Nationalisten unter Nabucco gegenüber. Am Rednerpult singen sie ihre flammenden „Arien-Statements“. Doch auch innerhalb der Gruppierungen herrscht Uneinigkeit, weil Nabuccos Tochter Fenena zu den Gegnern übergelaufen ist, und sich dort mit Ismaele zusammengetan hat, was diesem wiederum von der Zaccaria-Fraktion übelgenommen wird. Er verliert seinen Sitz im Sicherheitsrat.
Die biblische Geschichte funktioniert in diesem heutigen Kontext erstaunlich gut. Handlungsorte sind auch Büros um den Sitzungssaal. Auf Bildschirmen und Schriftbändern flackern ständig Nachrichten und Erklärungen zu Serebrennikovs Sicht der Nabucco-Handlung. Diese Informationsflut lässt sich kaum erfassen. Nicht immer ist klar, welche der widerstreitenden Parteien agiert. Hier war das Geschehen besonders in den vielen Chorpassagen zu statisch.
Dafür sind vor allem Nabucco und seine Stieftochter Abigaille psychologisch eindrücklich profiliert. Der größenwahnsinnige Nabucco erklärt sich zum Gott und wird vom Blitz getroffen. Serebrennikov deutet dies als Schlaganfall, der durch die Abwendung seiner leiblichen Tochter Fenena ausgelöst wird. Dass er später wie durch ein Wunder aus einem Krankenhausbett aufsteht und sich zur Fremden-freundlichen Politik bekennt, ist dann weniger plausibel. Aber sein plötzlicher Sinneswandel ist auch in Verdis Original rätselhaft. Abigaille muss erfahren, dass sie das Kind eines Sklaven ist. Ihre Verletzungen sublimiert sie bei Serebrennikov mit Machtehrgeiz und erotischen Obsessionen.
Die Flüchtlinge, die in dieser Produktion mitwirken, sind von Anfang an präsent. Sie nehmen etwa stumme Rollen als Putzpersonal ein. Beim Schlussbild treten sie in alter orientalischer Tracht auf. Wir verstehen, diese großen Kulturen, die weit älter sind als unsere eigene, darf man nicht aus dem Bewusstsein verlieren. Dennoch bleibt ein mulmiges Gefühl, denn die realen Flüchtlinge werden hier doch fast zu Ausstellungsobjekten.
Musikalisch überzeugten vor allem der von Eberhard Friedrich exzellent vorbereitete Chor und das von Paolo Carignani zu einem wunderbar ausgewogenen Klang geformte Philharmonische Staatsorchester. Carignani setzte den Drive von Verdis Musik spannend um, ohne ins Reißerische abzudriften. Sängerisch setzte sich Dimitri Platanias als Nabucco mit seinem rund geführten, warm timbrierten Bariton deutlich an die Spitze des Ensembles, gefolgt von dem Tenor Dovlet Nurgeldiev als Ismaele und der Mezzosopranistin Géraldine Chauvet. Oksana Dyka spielte die Obsession der Abigaille sehr eindrücklich, die Schärfe und Härte ihrer Stimme vor allem in den Höhen verstärkten dieses Bild, trafen aber vermutlich nicht das Stimmideal jedes Zuhörers. Auch mit dem zwar voluminösen, düsteren Bass von Alexander Vinogradov als Zaccaria, der aber arg forcierte und oft ins Kehlige tendierte, wird nicht jeder glücklich geworden sein.
Trotz der wenigen Unmutsäußerungen bei den Zwischenspielen mit der syrischen Musik und den Kriegsfotos, zeigte sich das Publikum beim Schlussapplaus für das Regieteam – das T-Shirts mit der Aufschrift „Free Kirill“ für den noch immer unter Hausarrest stehenden Serebrennikov trug – einhellig enthusiastisch.