Max Simonischek, Maren Eggert und Bernd Moss (v.l.) im Bühnenraum der Kammerspiele am Deutschen Theater

Aus der Zeit gefallen?

Jon Fosse: Starker Wind

Theater:Deutsches Theater Berlin, Premiere:14.11.2021 (DSE)Regie:Jossi Wieler

Für fast zehn Jahre hatte er sich zurückgezogen von der Arbeit für die Bühne: Jon Fosse, der norwegische Schriftsteller, dessen Theatertexte um die Jahrtausendwende Erfolg um Erfolg feiern konnten. Er war so etwas wie die Stimme jener Zeit, wie rätselhaft auch immer die Aufführungen damals blieben. Denn Fosses Stücke erzählten ja nicht viel, genau genommen fast gar nichts. Die meist von Verlorenheit und Einsamkeit dominierten Szenarien blieben stets eher undramatisch. Und auch die Sprache kreiste sehr sparsam um privat-psychologische Themen und um sich selbst. Aber sie markierte halt den Ton der Epoche – nach der Dauer-Aufregung der Nachwende-Neunziger war kontemplative Ruhe gefragt, auch der Rückzug ins Private. Zu sehr allerdings klang Fosse auch nach Mode und Markt, wofür er allerdings nichts konnte – er hatte halt einen Ton gefunden: seinen, den typischen Fosse-Ton.

Derselbe Mann? Dasselbe Fenster?

„Starker Wind“, das neue Stück nach langer, mit intensiver Schreibarbeit an dicken Romanen gefüllter Zeit, beginnt wie früher – ein Mann steht oder sitzt am Fenster, schaut hinaus und grübelt. Einfache Fragen, immer wieder neu gestellt: Steht er? Sitzt er? Ist das immer dasselbe Fenster, aus dem er schaut? Ist die Wohnung, in die er gerade zurückgekehrt ist, wirklich die, in der auch vorher lebte mit Frau und Kind? Immerzu und tief versunken ins Denken und Reden sitzt er in einer der Zuschauer-Reihen der Kammerspiele im Deutschen Theater in Berlin. Wir, das Publikum, sind derweil auf der eigentlichen Bühne versammelt, auf Stühlen, die exakt den Kreis der Drehbühne des Hauses füllen. Zu ahnen ist natürlich (und es kann niemanden überraschen), dass diese Bühne sich irgendwann auch wirklich drehen wird.

Als die Frau vor ihm auftaucht im Zuschauerraum, kommt der Mann langsam zur Sache – und zum dramatischen Konflikt. Denn die Gemeinsamkeit von früher ist offenkundig dahin; sie antwortet ihm nur noch ausweichend. Vom Kind, das beide haben, ist nur noch am Rande die Rede. Es taucht nicht auf. Dafür aber erscheint bald ein deutlich jüngerer Mann: natürlich der neue Geliebte. Dieses extrem konventionelle Eifersuchtstableau entwickelt nun allerdings deutlich mehr dramatische Energie als sonst bei Fosse üblich gewesen war.

Neue Gemeinsamkeit?

Denn der Jüngere pflegt eine durchaus ungewohnte Vorstellung von Gemeinsamkeit – die beiden Männer könnten sich die Frau ja teilen, erst schliefe der eine, dann der andere mit ihr; und der Ehemann könne der neuen Paarung gern auch zuschauen und sich selbst befriedigen. Die Frau widerspricht diesen Vorschlägen nicht – wäre sie einverstanden? Wohl eher nicht. Vom früheren Interesse am Gatten jedenfalls ist nichts geblieben. Sie will nur noch, dass er verschwindet. Und als der Ältere dem Paar dann tatsächlich zuschaut bei einer Art von lustvollem Tun (sie bemalen einander mit grüner Farbe), setzt er sich ganz und gar dem titelgebenden „starken Wind“ aus – und stürzt sich aus dem Finster, durch das er zu Beginn immer schaute.

Dafür ist der Schauspieler Bernd Moss in die allerhöchste Höhe des Bühnenhauses geklettert und liegt dort auf einem Gitterrost – Jossi Wielers Inszenierung der deutschsprachigen Erstaufführung verführt mit ganz realistischen Mitteln zu Traum- und Alptraum-Phantasien dieser Art. Bühne und Kostüme von Teresa Vergho (bekannt aus Arbeiten mit Susanne Kennedy) haben daran großen Anteil – dem realem Bühnenraum gegenüber steht eine grüne Wand, zu der sich die Bühne zweimal dreht; eine Art überdimensionaler „Halfpipe“ steht dort, wie für Skater, an der das junge Paar in lustvoller Verrenkung hinauf und hinab klettert, vor der zum Ende hin auch das Farb-Geklecker stattfindet. Zwischendurch waren die Jungen auch zum Alten in die Zuschauerreihe gekraxelt, und ganz oben, hinter der letzten Reihe, hatten Maren Eggert und Max Simonischek die Kleider gewechselt. Er sah jetzt aus wie sie und sie wie er – was den Alten (der blieb, wie er war) natürlich noch mehr verstörte. Suchten die Jungen etwa nicht nur den flotten Dreier, sondern auch bisexuelles Vergnügen zu dritt?

Ein szenisches Gedicht?

Fosses Text, im Untertitel deklariert als „szenisches Gedicht“ und wie immer übersetzt vom erfahrenen Hinrich Schmidt-Henkel, gibt sich in diesen Fragen deutlich spekulativer und expliziter als früher. Jossi Wieler (vielleicht der ideale Interpret für die Werke des Norwegers) bemüht sich trotzdem um die feineren Strukturen, um den Zusammen- wie den Auseinander-Klang im Beziehungsgeflecht. Teresa Vergho setzt derweil auf signifikante Farben, Grün und Rot etwa beim jungen Paar; wodurch dann auch der Kleidertausch mittendrin so effektsicher funktioniert. Das eher gedeckte Dunkelrot des Alten weckt längst nicht so viel Interesse …

Aber ist das nun – nach so langer Pause – ein „neuer Fosse“? Oder nur ein neues Stück im altvertrauten Ton? Eher letzteres – wer das in-sich-selbst-Verstricktsein auch früher schon mochte, wird sich auch jetzt wieder zurechtfinden in Fosses Traum- und Alptraum-Räumen. Auch wer gerade ein bisschen Abstand gewinnen möchte vom potenziell apokalyptischen Lärm der Gegenwart. Fosses Art zu Schreiben und Sprechen ist ein wohlfeiler Rückzugsraum; wie auch der Autor die Ruhe fern von allem Trubel gesucht und gefunden hat in niederösterreichischer Beschaulichkeit. Zu bezweifeln allerdings bleibt, ob der Dauerbrenner-Erfolg von vor beinahe zwanzig Jahren sich wird fortsetzen lassen.

Vielleicht ging die Zeit ja auch hinweg über die einsamen Kämpfe im Werk des Jon Fosse.