Ensembleszene

Aus dem Koffer strahlt der Gral

Goyo Montero: Don Quijote

Theater:Staatstheater Nürnberg, Premiere:22.04.2017 (UA)Komponist(in):Owen Belton

Goyo Montero, der Nürnberger Ballettchef, hat „Don Qijote“ choreographiert.

Verhuschte Gestalten rennen panisch an Kerkerwänden entlang, eher Gespenster ihrer verlorenen Hoffnung als Gefangene eines Unterdrückungssystems. Bedrängt von gleißendem Licht und gellenden Glockenschlägen erstarren sie für Momente, verfallen in entmenschlichte Körpermechanik und stürzen aus dem Rhythmus des Moments zurück ins rotierende Dunkel, immer auf der Suche nach Erlösung aus der Gefangenschaft. Passende Stimmungslage für Verzweiflungs-Phantasien, aus denen mulmige Ideen wuchern.

Ein Koffer mit gebündelten Manuskriptseiten wird ausgekippt und unters Volk geworfen. Jeder, der eines der Dichter-Blätter erwischt, darf in der eigenen Muttersprache daraus rezitieren. Literatur ist multikulturell, Tanz sogar ohne Übersetzung. Goyo Montero, Nürnberger Ballettchef mit spanischen Wurzeln und unstillbarer Sehnsucht nach Bruderschaft mit den tragischen Helden des literarischen Grenzverkehrs zwischen Realität und Traum (Cyrano, Don Juan und Faust hat er in den letzten Jahren schon abgehakt) will in seinem neuen Tanzstück „Don Quijote“ den allbekannten Ritter von der traurigen Gestalt zum irritierend abstrakten „Gedankenexperiment“ umformatieren. Im Gefängnis, das man nach Monteros Hinweis gerne auch als „Psychiatrische Abteilung, Flüchtlingslager etc.“ assoziieren darf, warum also nicht als Labor oder Entbindungsstation, werden die Charaktere mit dem Speer als Wünschelrute „erweckt“, ist Quijote der personifizierte Wunschtraum des bodenständigen Sancho Panza, in dem allerdings bereits die Gene eines Tyrannen wirken. Letzteres kann man im Programmheft nachlesen, auf der Bühne schwerlich erkennen.

Die überwältigend melancholische Sehnsucht nach freiem, befreiendem Geist, die der Cervantes-Klassiker mit grotesken Zuspitzungen aus seinen Figuren aufsteigen lässt, braucht in dieser Neuerzählung auf undatierter Zeitreise, die ausdrücklich den Dichter als Illusions-Poeten beschwört, das exakte Rollenspiel allenfalls für den Gerüstbau. Es geht nicht um „Handlung“, sondern um Annäherung an irritierende Widersprüche zwischen Ideal und Irrwitz. Das ist klug gedacht, pragmatisch ist es auch. Auf der Besetzungsliste steht also die Tänzerin Rachelle Scott als Titelheld, Kollegin Natsu Sasaki übernimmt Sancho Panza, die Traumfrau Dulcinea huscht schon im Fantasie-Gefängnis als glamouröse Travestie-Diva (Iván Delgado) durchs Lumpenkollektiv, nur die getrennt agierende Aldonza bleibt mit Esther Pérez so wie sie immer war. Diese Rollenbindungen durchlaufen sowieso einen ständigen Auflösungsprozess, die Systematik der Ballett-Konvention wird mit sanfter Hand zertrümmert.

Die Gedanken sind frei, wenn auch nicht absolut. Etwas Anbindung an die populären Stationen der Fabel bleibt erhalten, und dass solche Passagen choreographisch besonders beeindrucken, spricht für sich. Ein früher Höhepunkt von Monteros Choreographie ist die wunderbar stimmige Entwicklung der Helden-Pose aus der Revue-Requisite. Auf dem rollenden Beleuchtungs-Galgen, der das „Theater im Theater“ eigentlich mit anderer Energie versorgt, sitzt da plötzlich der Pseudo-Ritter wie hoch zu Ross, und aus dem Scheinwerfer wird Rosinantes lichtspendender Pferdekopf. Die legendären Windmühlenflügel, die den heroisch im Nebel stochernden Kämpfer herausfordern, verkümmern zum kaum wahrnehmbaren Schattenwurf, dafür marschiert eine martialisch schimmernde Roboter-Rüstung wie aus dem „Star Wars“-Archiv stolz durch Szene und Unterbewusstsein.

Goyo Montero erzählt die Geschichte, die er „verloren in den Tiefen der Zeit“ verortet, mit einer Auslese der Fragmente, die ihn interessieren. Den  schrulligen Humor, die schimmernde Kontrastfarbe zur Tragödie,  hat er ganz gelöscht. Stark ist die Choreographie immer in den großen Gruppenbildern, wo selbst gewagt gefühlige Metaphern von der glänzenden Compagnie mit Vitalität aufgeladen werden. Pantomimische Zwischenspiele wirken dagegen wie Verlegenheitslösungen, die sie wohl auch sind. Konstruierte Verbindungs-Korridore für Szenen, die gedankenschweres Eigenleben gegen den Sog der Story behaupten.

Der kanadische Komponist Owen Belton, schon mehrfach am Soundtrack von Montero-Stücken beteiligt, hatte diesmal den Auftrag für eine komplette Partitur. Sie ist eindrucksvolle Kunst am Bau, denn ihre konservierte Sounddesign-Dynamik aus allen denkbaren Elementen vom Glockenspiel über Gitarre und Orgel bis zur Perkussion-Attacke ist eine einzige Verlockung für den Tanz, war dem davon durchaus inspirierten Auftraggeber aber noch nicht genug. Montero lässt seinen „Don Quijote“, nachdem er ihm bereits ein spanisches Volkslied über blinde Liebe wie einen Trauerflor ans Revers  heftete, etwas ruckartig „klassisch“ ins Adagio von Chopins zweitem Klavierkonzert münden, wo die Andeutung eines Pas de deux wie ein persönlicher Gruß ans keineswegs aufgegebene Ballett wirkt. Dann versammelt sich das ganze Ensemble zu einem dieser von Licht- und Schattenspielen, Bildrausch und Theaterqualm umflorten, immer wieder faszinierenden Gruppen-Arrangements aus dem Montero-Fundus und klappt den Koffer, den wir vom Anfang des Stückes her kennen, noch einmal auf. Und siehe, es leuchtet als wäre der Gral ein Wanderpokal. Verklärung oder Verheißung, Kühnheit oder Kitsch? Der Choreograph und Regisseur, der auch bei Bühne, Kostüm und Licht immer offizieller Ko-Partner ist, möchte die Deutung „am liebsten dem Zuschauer überlassen“. Bitteschön!