Foto: Andreas Vögel und Melanie Straub in „Die Reise nach Kallisto“ am Schauspiel Frankfurt © Felix Grünschloß
Text:Michael Laages, am 5. Juli 2021
Im Kosmonauten-Team gibt’s einen Hobbyautoren. Boris Kostrikow ist eigentlich und vor allem der Co-Pilot von Raumschiff-Chefin Jelena Jermakowa, allerdings wohl nicht wirklich verlässlich in dieser Rolle – ein halbes Dutzend Mal ist er durchgefallen bei der Pilotenprüfung. Auch jetzt scheint er mehr mit den Texten beschäftigt, die er schreibt; wenn er auch lange nicht über die ersten zwei Sätze hinauskommt. Und wenn er nach vielen Mühen endlich mal fertig ist, vertraut er sich einer potenziellen Leserin an, die er beeindrucken will, und weiß oft gar nicht mehr, „worum es eigentlich geht“. Unüberhörbar hat Michel Decar diese kleine selbstironische Pointe hinein geschrieben in sein neues Stück für das Schauspiel Frankfurt – worum es womöglich grundsätzlich gehen könnte, über die zuweilen recht amüsante Raumfahrer-Geschichte hinaus, darf auch bei ihm eher unklar bleiben.
Ach ja – Boris schreibt übrigens Science-Fiction. Und genau danach sieht auch Decars Stück zunächst aus: mit dem Raumschiff „Zimorodok I“, erkennbar russisch an den Rechts- und Links-Markierungen („nalewo“ und „naprawo“) auf Max Lindners raumfüllend breiter und hoher Bühne in den Kammerspielen, und auch mit dem Ziel der Reise – der Kallisto-Mond wurde vor langer Zeit schon zum Objekt terrestrischer Weltraumforschung. Decars Kosmonauten erhoffen am Beginn des kommenden Jahrhunderts nun Erkenntnisse über ein Meer auf diesem Mond, also über möglichen Lebensraum.
Sie fliegen allerdings nur um Kallisto herum und dann gleich wieder zurück, und auch die Forschung selbst gerät mit der Zeit völlig aus dem Blick. Bald geht es nur noch um die durchaus komplizierten und uralt-menschlichen Beziehungen im Sextett – alle Frauen, Kapitänin Jelena, die strenge und zukunftsfrohe Physikerin und Kommunistin Sonja und die junge, etwas flatterhafte Technikerin Natascha, sind mehr oder minder verknallt in den Geochemiker Kolja, Eifersüchteleien inbegriffen; und Hobbypoet Boris versteigt sich kurz vor Schluss zu einer dezent homoerotischen Avance Ilya gegenüber, dem Astrobiologen, der zu Forschungszwecken zwei Wellensittiche mit auf die Reise nahm, die allerdings inzwischen leider verstorben sind.
Das „Experiment“ dieser Reise vollzieht sich, das wird schnell klar, am Human-Sextett selber. Kolja beginnt und bittet Sonja, ihm gegenüber Aufstellung zu nehmen; er werde jetzt bis 2 zählen. Ganz einfach. Tatsächlich zählt er nur bis 1 – und im stummen, leicht hypnotischen Gegenüber beginnen die beiden, einander zu imitieren in vorsichtig schwankenden Bewegungen. Nach 90 Minuten voll von Beziehungskisten-Palaver bittet Sonja dann Natascha zu exakt dem gleichen Experiment. Mit genau dem gleichen Effekt.
Zwar nicht wirklich aufschlussreich und erkenntnisstiftend, aber charmant wirkt Decars Stück in Robert Gerloffs Uraufführungsinszenierung, weil die eher flache Banalität von Handlung und Erzählung in produktiven Kontrast gerät zur verblüffenden Struktur des Textes selbst. Decar nämlich schreibt durchweg Miniaturen, schnelle kleine Szenen, meist dialogisch, selten für größere Teile des Ensembles; Gerloffs Inszenierung verdichtet dieses Stück- und Flickwerk aber tatsächlich zu einer Art kollektivem Erlebnisstrom. So entsteht eben doch eine Art dichtes kleines Kammerspiel – mit hübsch ironischen Effekten. Alle sind immerzu auf Socken unterwegs, also katzenpfotenleise; wenn sie schon nicht still und stumm schweben und nur ab und zu ein wenig Zeitlupe imaginieren können im Raumschiff-Raum. Und mitten drin singen sie auch noch Andreas Doraus 80er-Jahre- und Neue-Deutsche-Welle-Liedchen über „Fred vom Jupiter“; natürlich auf Russisch.
Ein kleiner Spaß ist das – wie das ganze Stück. Das Ensemble agiert kompakt und kollektiv; zu glänzen und brillieren gibt es ohnehin nichts. Im „Alles muss raus!“-Modus des Frankfurter Schauspiels kam „Die Reise nach Kallisto“ noch schnell vor der Sommerpause zur Live-Premiere; wie auch Alexander Eisenachs Projekt „Eternal Peace“, das zuvor schon digital und als Film zu sehen war. Erst in der nächsten Spielzeit darf (und muss!) sich auch das Kallisto-Stückchen regelmäßig im Spielplan bewähren.