Foto: Szene aus "Ayda" von Dunja Jocić © Jeanette Bak
Text:Eckehard Uhlig, am 2. März 2023
Es gleicht einem Wunder, dass eine Company für modernen Tanz in der Schwabenmetropole überlebte. Im Rathaus beschied man dem jungen Bittsteller, der vor 15 Jahren um Unterstützung für sein Projekt geworben hatte, man habe neben dem renommierten Stuttgarter Ballett in der Stadt keinen Bedarf für eine zweite Tanztruppe. Nichtsdestotrotz feiert im Theaterhaus Stuttgart „Gauthier Dance“ – ein Name, der heute für höchste Tanzkunst steht – mit einem rauschenden Fest-Programm „!5 Years alive“, ist lebendig wie nie und spielt in der internationalen Tanzszene ganz oben mit. Das hat Gründer Eric Gauthier, der ehemalige Youngster des besagten Stuttgarter Balletts, seinen inzwischen sechzehn begeisternden Tänzerinnen und Tänzern, dem Theaterhausintendanten Werner Schretzmeier, seinem väterlichen Tanzfreund und Ratgeber Egon Madsen, Sponsoren und vor allem seinem Mut, seinem Talent, seiner Durchsetzungskraft und seinen faszinierenden Tanzideen zu verdanken.
Mitreißende Tanzlust zeichnete die Jubelfeier-Premiere aus. Neu aufpolierte Stücke aus dem Repertoire, die den tänzerischen Reichtum zwischen klassischem Ballett und Tanztheater exemplarisch und bunt gemischt zelebrierten, auch eine besondere Uraufführung und Tanzfilme begeisterten die Gauthier-Fans im ausverkauften Haus. Gleichsam an zwei Polen aufgespannt, präsentierte Mauro Bigonzettis die in Hälften geteilte Choreografie „Pression“ – zunächst zu Helmut Lachenmanns Geräusch-Musik, die mit Bohren und Sägen, auch mit Hammerschlägen an schöpferischen Arbeit in einer Tischler-Werkstatt erinnerte, zwei fast nackte Tänzer. Die verknoteten und verschraubten ihre biegsamen Körper bodengymnastisch ringkampfähnlich ineinander, bis neues, sich aufrichtendes Leben entstehen konnte. Klassisch anmutenden Tanz auf Spitzen gab es dagegen im zweiten Choreografie-Teil. Ein munteres Amazonen-Paar in blaugrauen Kleidchen war zu sehen, eingeleitet von wunderbar synchron über die ganze Bühnenbreite gleitenden, weit geöffneten Grätsch-Plies. Zu Franz Schuberts Kunstlied „Der Tod und das Mädchen“ und zu Passagen aus dem gleich betitelten Streichquartett formten sich mädchenhaft verspielte, sehnsüchtige Spiegelbilder.
Zwischen klassischem Ballett und Tanztheater
Nach diesem eindrucksvollen, gewissermaßen leitmotivisch zu deutenden Opening sah man den auf die Bühnenrückwand projizierten Jubiläumsfilm „Return“ von Hofesh Shechter. In Bewegungssequenzen umgesetzt, holt ein Tanz-Orpheus seine geliebte Eurydike aus den Kühlfächern eines Leichenschau-Hauses ins Leben zurück. Ein Konzert von Johann Sebastien Bach inspirierte dazu.
Vor Witz und Ironie nur so sprühende Tanz-Etüden folgten, die der moderierende Dance-Company-Chef als „Party-Pieces“ von der Sonnenseite des Tanzes bezeichnete. Zum einen Gauthiers Tanz-ABC, dem anspruchsvoll-virtuosen Solostück für einen als Oberkellner in Schwarz ausstaffierten Tänzer, der in schweißtreibenden Demonstrationen die Nomenklatura des Balletts von Arabeske bis Jeté durchbuchstabierte und mit eingeschobenen Missgeschicken auflockerte – beispielsweise einem „O my God“, wenn die Bandscheiben einen Nerv einklemmten. Zum anderen gabs zu schnulzigen Dean Martin-Songs Alejando Cerrudos „Pacopepepluto“: Drei nur mit Minislips versehene Tänzer spreizten sich geschmeidig und hüpften zur Freude der Voyeure wie erotisierte Faune herum. Und drittens Itzik Galilis „The Sofa“, wo sich zu dem mit rauchig rasselnder Stimme vorgetragenen Liebeslied „Nobody“ von Tom Waits abwechselnd ein binäres und ein raffiniert unterschobenes gleichgeschlechtliches Möchtegern-Liebespaar auf einem gelben Kippsofa übergriffig betatschten und balgten.
Uraufführung für die „Dance Juniors”
Die abschließend gebotene, umfangreich-mehrteilige Arbeit „Minus 16“, ein weltweit aufgeführter, zahlenmäßig genau zu Gauthier Dance passender israelischer National-Tanzklassiker von Ohad Naharin, präsentierte einen ausdrucksstarken Stilmix zu amerikanischen Gesellschaftstänzen und wummernden Beats, aber auch Duos zu zarter Vivaldi-Musik. Nachhaltig die Halbkreis-Stuhlpassage: Auf den Stühlen agierten die Tänzer und gestalteten einen unerhört eruptiven Ritus, eine abgründig-traumatische Beschwörung der Schoah.
Ein Ereignis des Jubelabends sollte keinesfalls vergessen werden. Als Herzensangelegenheit hat Gauthier mit vorerst vier Eleven, je zwei sehr jungen Frauen und Männern, die „Dance Juniors“ ins Leben gerufen. Für dieses Quartett schuf Dunja Jocić, eine international mehrfach ausgezeichnete Tänzerin und Choreografin aus Belgrad, das feine, nun in Stuttgart uraufgeführte Tanzstück „Ayda“. Die schwarz eingekleideten Juniors verwandelten dunkle Gefühlswelten zu einer Komposition von Renger Koning in vielfältige Bewegungs-Sprache. Mit dem kleinen Ensemble besucht Gauthier auch Schulen, um die Kinder in Turnhallen und auf den Pausenhöfen für das Tanzen zu begeistern und zur Bewegung anzuhalten. Stolz präsentierte der Company-Chef erste Erfolge mit einem Film. Da darf man dem Jubilar mit den Lateinern zurufen: Ad multos annos!