Foto: Ensemble der Deutschen Oper Berlin in "Antikrist" © Thomas Aurin
Text:Joachim Lange, am 31. Januar 2022
Da haben sich zwei Exzentriker gefunden: Der Komponist und Texter Rued Langgaard (1893-1952) und der Gesamtkunstwerker Ersan Mondtag (*1987). Genau genommen hat sie der Intendant der Deutschen Oper Berlin Dietmar Schwarz gefunden und zusammengebracht. Dabei liegt fast ein Jahrhundert zwischen der Komposition beziehungsweise der Überarbeitung des ziemlich absonderlichen Zweiakters „Antikrist“ des dänischen Komponisten und der Berliner Produktion.
Langgaard ist auf deutschen Konzertpodien oder gar Opernbühnen lange nicht so bekannt wie sein Landsmann Carl Nielsen. Die Überarbeitung der Fassung, die der so ehrgeizige wie gehypte, mit Fleiß glänzende Ersan Mondtag nun im Haus an der Bismarckstraße auf die Bühne brachte, wurde vom Komponisten 1930 abgeschlossen, gelangte gleichwohl erst 1999 in Innsbruck zu einer szenisch Uraufführung und erst 19 Jahre später in Mainz das erste Mal auf eine deutsche Bühne.
Große Worte, große Anklagen
Diese allgemeine Zurückhaltung dürfte sicher nicht an der süffigen Überwältigungsmusik oder an der mangelnden Lust von Dirigenten gelegen haben, sie fluten zu lassen und das Publikum mit ihren jähen Stilwechseln und atmosphärischen Wendungen zu überraschen, ohne zu verschrecken. Es dürfte eher an dem von Langgaard selbst verfassten Libretto gelegen haben. Immer wieder bleibt man beim Identifizieren von Sinnzusammenhängen von für bedeutungsschweren oder schön klingenden Worte (die deutsche Übersetzung stammt von Inger und Walther Methlagl) so im Ungefähren hängen oder einfach ratlos zurück. „In Lärmes Kirchen-Ödnis“ etwa ist so ein Leitmotiv, über das sich trefflich grübeln, fantasieren oder albträumen lässt. Das Ganze eher als Oratorium zu betrachten, hilft auch nicht wirklich. Es ist ein Text, der auf einzelne Pointen setzt, auf poetische Blitzeinschläge, die eine große überwölbende Düsternis allenfalls kurz erhellen. Das auftretende allegorische Personal redet auch nicht miteinander, sondern vor sich hin.
Der Handlungsrahmen ist kurz umrissen: Der biblisch vielbeschworene Antikrist übernimmt mit Zustimmung Gottes für eine Zeit die Macht. Weil die Welt (aus der Perspektive des Autors) es verdient hat, führen Verwirrung, Hoffart, Hoffnungslosigkeit und Begierde zum Streit aller gegen alle und in die Verdammnis. So jedenfalls sind die sechs Bilder thematisiert, die dem Prolog folgen.
Eine weitere theateraffine faustische Wette ist das allerdings nicht. Am Ende greift die Stimme Gottes (auf der Bühne ist „Gottes Stimme“ der Schauspieler Jonas Grundner-Culemann) zwar in Gestalt eines wirklich nackten Menschen ein und macht dem Spuk ein Ende, aber ob die Menschheit wirklich durch diese apokalyptische Erfahrung geläutert ist, bleibt fraglich.
Visualisierung der Musik
Mondtag hat nicht versucht, die sperrig-poetischen, religiösen Sentenzen als Zustandsbeschreibung der Welt von damals oder gar von heute aufzuklaren. Also aus einer raunend wabernden Gefühlswelt, etwas präzise Identifizierbares zu machen. Obwohl eine expressionistisch überzeichnete, gemalte Stadtkulisse, durch die Schilder wie „BAR“ oder „HOTEL“ und moderne Straßenlaternen auch auf unsere Gegenwart verweisen. Vor allem hat er als sein eigener Ausstatter (die knallbunten, skurril überzeichneten gleichsam gemalten Kostümierungen verantwortet Ersan Mondtag gemeinsam mit Annika Lu Hermann) das gemacht, was er wirklich kann: eine eigene expressionistische Kunstwelt erschaffen, die ihre Inspiration aus der Wahrheit (oder Wirkung) der Musik bezieht und sich bei der Ausstaffierung des Personals nicht in einem Modekaufhaus oder gar einem Secondhand-Laden bedient.
Visualisierung von Musik und nicht die eindeutige Bebilderung des Werkes habe er im Sinn, sagt Mondtag im Programmheft-Interview. Genau das liefert er auch. Das Publikum ist dadurch zwar am Ende nicht unbedingt klüger, was die Geheimnisse dessen betrifft, was er da erlebt hat. Er hat aber etwas erlebt. Ein Gesamtkunstwerk, das für sich steht und selbstbewusst auf dieser Autonomie beharrt. Eins, bei dem die Musik, die Macht der expressionischen Prospekte, die grotesk überzeichneten Kostüme und der Klang der Worte faszinieren und einen so starken Eindruck hinterlassen, dass man sich auch auf das Geheimnis und das nicht eindeutig Entschlüsselbare gerne einlässt.
Zumal man dieser großformatig changierenden Musik, die ihre Inspirationen bei Wagner (vor allem bei dessen „Parsifal“) oder bei Korngold und Strauss nicht verschämt übergeht, in ihrer puren Schönheit und Wucht, aber auch dem eigensinnigen Wechsel, dank des Orchesters der Deutschen Oper und seines Gastdirigenten Stephan Zilias sowieso nicht ausweichen kann.
Das wird auch von der vokalen Prachtentfaltung der unter ihren Kostümierungen nur zu erahnenden Protagonisten unterstützt. Das fängt mit Thomas Lehman an, dem teuflischen Spielmeister Luzifer. Es geht weiter über die personifizierte Rätselhaftigkeit von Valeria Savinskaia und Irene Roberts. Es kulminiert in der großen Hure von Flurina Stucki, gilt aber auch für AJ Glueckert unter der Maske des Tiers in Scharlach, Andrew Dickinson als Lüge und Jordan Shanahan als Hass. Den „Mund, der große Worte spricht“ steuerte corona-vertretungsweise Thomas Blondelle von der Seite bei. Dass die Musik Langgaards viele sinfonische Passagen hat, war für Mondtag und den Choreographen Rob Fordeyn eine Steilvorlage, um eine zwölfköpfige Tänzertruppe durchweg schlüssig in die Szene zu integrieren. Gemeinsam mit den von Jeremy Bines einstudierten hauseigenen Chor trugen sie zu einem überwältigenden Opernabend bei.