Eine unbekannte Zuschauerin beim Audiowalk

Apokalypse für die Ohren

Ligna: Ulysses 2.0

Theater:Kampnagel, Vorlage:HomerAutor(in) der Vorlage:OdysseeRegie:LignaKomponist(in):Günter Reznizek

So kann es nicht weitergehen mit unserem Planeten! Eigentlich wissen wir das längst, und doch hilft es, erneut an die Hand genommen und mit beunruhigenden Tatsachen konfrontiert zu werden, um Dinge deutlicher zu sehen. Diese Schärfung des Blicks gelingt dem Performance-Kollektiv Ligna über die Ohren: Ihr „Ulysses 2.0“ ist ein Audiowalk im Freien von gut einer Stunde Dauer.

Keine schlechte Idee, in Zeiten Corona-bedingter Kontaktbeschränkungen einen Beitrag zum diesjährigen Kampnagel-Sommerfestival komplett in den Kopf des Publikums zu verlagern – eine Vorstellung also im wahrsten Sinn. Doch den Machern geht es um mehr: mit dem Programm, das akustisch abläuft, möglichst ältere Programme, nach denen unser Leben abläuft, zu überschreiben – sie „wollen neue Programme entwickeln“, die Hörer „umprogrammieren…“.

Zu diesem Zweck beschallen sie die Spaziergänger einerseits mit eingeflochtenen Exkursen in die Welt des antiken Odysseus sowie zu dessen von James Joyce erdachtem Nachfahren „Ulysses“; andererseits gibt es konkrete Handlungsanweisungen wie „Schließen Sie ein Auge. Gehen Sie einäugig weiter.“ Über diese sinnliche Erfahrung lenkt das Hörspiel die Gedanken auf den einäugigen Zyklopen, dem Odysseus bekanntlich auf seinen Irrfahrten begegnet. Jene Sage ist mit eindeutiger Wertigkeit belegt: Der eine ist ein griechischer Held, der andere ein brutalter Wilder. Anders formuliert, kämpft hier Zivilisation gegen Natur. Jedoch: Wir kennen diese Geschichte nur aus der Sicht von Odysseus. „Niemand fragte je den Zyklopen“, gibt die Stimme im Ohr zu bedenken und sät geschickt Zweifel an sicher Geglaubtem. Daran wollen sie rütteln, an einer vermeintlichen Erkenntnis, am Festgefahrenen. Doch vor allem mögen die Menschen Folgendes verstehen: Die Natur beherrschen zu wollen, ist eine Irrfahrt.

Das vermittelt sich noch weitaus wirkungsvoller, sobald zwei Wissenschaftler ins Spiel kommen: „Ulysses 2.0“ beruft sich auf Lynn Margulis und James Lovelock; Erstgenannte war eine Biologin, die Darwins als gültig geltende Evolutionstheorie à la „Survival of the Fittest“ als Projektion der kapitalistischen Gesellschaftsordnung entlarvt und stattdessen behauptet, die (Weiter)Entwicklung von Leben sei nur durch Symbiose möglich gewesen, insbesondere durch die Verschmelzung von Bakterien. Und der britische Naturwissenschaftler Lovelock begreift unseren Planeten Erde als Lebewesen, dessen Erdatmosphäre über Millionen von Jahren nur durch das Zusammenwirken zahlloser anderer Lebewesen entstehen konnte. Fazit: Sich selbst als autonom handelndes Subjekt zu sehen, sollte überdacht werden, denn vielleicht ist jeder von uns nur das Produkt von Kooperation und Symbiose.

Auf diese Weise schüttelt das Programm den lauschenden Spaziergänger durch allerlei provokative Fakten. Die stehen in krassem Gegensatz zu dem, was sich jenseits der Kopfhörer abspielt: Sonnenhungrige Jugendliche, lärmende Kinder, Boule spielende Erwachsene, die allesamt den sommerlichen Sonntagnachmittag im Hamburger Lohmühlenpark genießen. Und auch diese Szenerien werden vom umherstreifenden Theaterhörer plötzlich anders wahrgenommen. Am Ende des Audiowalks sind die brennenden Probleme dieser Welt nicht kleiner, aber klarer geworden, wie unter einem Brennglas.

Ligna gelingt eine gut analysierte Apokalypse.