Foto: Szene aus "Haut" an der Deutschen Oper Berlin © Eike Walkenhorst
Text:Roland H. Dippel, am 7. November 2021
Das schwierigste im neuen Musiktheater ist die Musik. Diese Schwierigkeit entsteht nicht nur aus ästhetischen und formalen Fragestellungen nach ihrer Funktion in einem theatralen Gesamtkunstwerk, sondern immer häufiger und dringlicher durch die geschlechtlichen Positionierungen. So in der Uraufführung des 5. Internationalen Kompositionswettbewerbs „Neue Szenen V“ der Deutschen Oper Berlin und der Hochschule für Musik Hanns Eisler, die drei Minipanoramen von „Frauenliebe und (Nicht-)Leben“ vorführt: „Kein Mythos“ von Sara Glojnarić (Musik, geb. 1991) und Dorian Brunz (Text, geb. 1991), „Haut“ von Lorenzo Troiani (Musik, geb. 1989) und Lea Mantel (Text, geb. 1995) sowie „unser Vater | Vater unser“ von Sergey Kim (geb. 1987, Musik) und Peter Neugschwentner (Text, geb. 1992).
Der Projekttitel „Scheiterhaufen“ bezieht sich auf Schuldzuweisungen, Stigmatisierungen und physisch-psychische Verstümmlungen von außen, aber auch von Frauenfiguren an sich selbst. Über die „Männer sind Schweine“-Positionierung des vormodernen Musiktheaters sind alle drei eigens für diese Kurzopern erfundenen Storys über „Hexen“ von heute hinaus. Auf die persönlichkeitsstarke Musik dafür muss man allerdings noch etwas warten. Die Studierenden der Hochschule liefern einen intellektuell wie professionell beeindruckenden Volleinsatz für Neues Musiktheater.
Sind diese Stücke über Traumata und Vereinzelung repräsentativ für die Erlebnis- und Emotionssphären der jüngeren Generation? Als die Jury unter dem Vorsitz von Chaya Czernowin aus 26 Teilnehmern die drei Gewinner kürte, begannen an der Deutschen Oper Berlin gerade die Proben zu Czernowins Oper „Heart Chamber“. Zeitgleich brachte das Ensemble Modern die Paar-Oper „Passion“ von Pascal Dusapin auf CD heraus. In beiden Stücken ging es noch um das Wollen für einen Weg, der zueinander führt. Die „Scheiterhaufen“-Stücke der drei aktuell etwa dreißigjährigen Komponist:innen und Autor:innen dagegen handeln – verstärkt durch die Regie – von echten oder symbolischen Verwundungen an Frauen. Deren couragierte Bewältigung für ihr Leben nach dem Ende der Stücke bleibt offenbar unwesentlich. Direkt ausagierte Konflikte der ‚realen‘ Figuren finden nicht statt. Die Kämpfe gegen überkommene Moralvorstellungen, Instanzen und nicht-materielle Gegner ereignen sich abstrakt. In „Kein Mythos“ geht es sogar um wahre Liebe, aber die Musik findet dafür keine Sprache.
Dystopie ohne Geschlechter
Die Generation, die heute um die Dreißig Jahre alt ist, hat an diesem Abend offenbar weniger Zorn als ihre Großeltern zur Zeit von Alice Schwarzer und weniger Phantasie als ihre Eltern um Judith Butler. Musik als Mittel zum Trost, zur Hoffnung, zur Entspannung ist ihnen – zumindest an diesem Uraufführungsabend – fremd. Auf weitgehend elektrikonisch- und verstärkungsfreie Tonproduktion lässt sich am ehesten noch Sergey Kim in „unser Vater / Vater unser“ ein, in der seine Frauenfiguren einer vom biologisch-sozialen Geschlecht unabhängigen Dystopie entgegenstreben.
Felicia Brembeck und Liudmila Maytak sind die Einzelstimmen der (die Kostüme verraten es) emsigen Arbeitsbienen eines Logistikzentrums. Unter ideologischen Motivationsfloskeln des zugeschalteten Big Brother sehnen sie sich nach Bildung, Sex und Spaß. Bipolar wie Dostojewskis „Großinquisitor“ droht der Machthaber nach markigen Diktatorenparolen und seiner Verwandlung in den Moloch der freien kapitalistischen Welt mit aus seinem Paillettenkleid ragenden Scherenhänden. Peter Neugschwentners Text enthält keinen Hoffnungsfunken zwischen einem repressiven und einem nur scheinbar etwas freieren System. Nichts wird sich ändern, solange die jungen Frauen naiven Bedürfnisvisionen nachhängen, in denen vor allem Konsum glücklich macht. Kims Musik schärft das dramatische Potenzial mit fast anachronistisch textverständlichen Rezitativen. Seine Partitur wirkt intelligent, schafft Anreize zu sängerischer Gestik und analysierender Interpretation. Das ist Kammeroper mit dialektischen Traditionsbezug und enthält genügend Spielangebote für weitere Inszenierungen mit anderen Sichtweisen. Ana Cuéllar Velasco setzte das Geschehen ohne erkennbare Orientierung oder Reibung am gestischen Charakter der Musik in Szene.
Ü18-Projektionen und elektronisches Dröhnen
In den beiden anderen Partituren sind detaillierte Verständniszonen durch monochrome Klangflächen versiegelt. Dazu passt dann (fast) jede Bebilderung oder Choreographie. Die Musik ist frei, die Szene demzufolge auch. Dorian Brunz kombiniert in „Kein Mythos“ die Tragödie von Pyramus und Tisbe – das durch ein dumm waltendes Schicksal sterbende Paar aus Ovids „Metamorphosen“ – mit der von den 1980ern ins Heute springenden Geschichte von Karin (Clara Maria Kastenholz) und Hannah (Constanze Jader). Die beiden dürfen aufgrund der restriktiven Moral vor 1989 nicht zusammen leben und altern. Das Wortband „Linke Lesbe“ wird neu geklebt zu „Liebe“. Dazu knallen die Regisseurin Nora Krahl und ihr Video-Designer Brian Andrew Hose wilde Manga-Pornos auf die Leinwände. So bekommt das Opernpublikum mal einen „Ü18“-Kitzel.
Wie schon bei der digitalen Uraufführung ihrer Oper „Im Stein“ nach Clemens Meyers Roman aus Halle empfiehlt sich Sara Glojnarić mit ihren Zuspielcollagen eher fürs Plärrig-Grobe. Auch hier macht sie nicht so recht klar, warum sie unbedingt Komponistin statt DJ sein will. Dass es um Freiheits- und Liebesentzug geht, liest man im Programmheft. Glojnarics Elektro-Konvulsionen dröhnen (fast) jede Story nieder.
Für „Haut“ nimmt Lea Mantels in ihrem Text Bezug auf die befangene Frau im Marlen Haushofers „Die Wand“ und Kafkas „Verwandlung“, in der die Titelfigur zum Tier wird. Darüber legte Lorenzo Troiani kühl schwelgende Klangflächenpoesie und – von der Regie durch Männer-Röcke und Frauen-Hosen verdichtet – langsam schwebende, ein androgynes Ideal feiernde Kantilenen. Mit Lilien, weißen Tüchern und weißen Gesichtslarven zaubert Andrea Tortosa Baquero eine dekorative Erlesenheit, die bei ihren anderen Arbeitgebern Novoflot und La Fura dels Baus nicht erwünscht ist. Die Tontechnik liefert dazu feinen Hall und macht den instrumentalen Gestus des Echo Ensembles der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin etwas fülliger und opulenter. Manuel Nawri dirigiert hier und in den beiden anderen Stücken so sicher wie unauffällig.
Das offene Raumgefühl der Tischlerei passt optimal für solche Experimente. Wenige Gegenstände – ein Bootskelett, ein Segel, ein Tisch – generieren vor allem in „Kein Mythos“ und „Haut“ eine Sinnhaftigkeit, welche die Musik über weite Strecken vorenthält. Insofern meint der Projekttitel „Scheiterhaufen“ auch die Trümmer eines Musiktheaters, das Funktionen anstelle von Emotionen in Szene setzt und Ratlosigkeit in Bilder fasst. Die Welt retten will in den drei Opern niemand und in eine Utopie zum Besseren dringen diese Momentaufnahmen gar nicht erst vor. Was Prinzessin Lena bei Georg Büchner sagt, liegt wie leichter Smog über der von allen Abteilungen der Deutschen Oper mit viel Engagement unterstützten Hochschul-Produktion: „Den Frühling auf den Wangen und den Winter im Herzen!“ – Klimawandel ist überall.