Martin Reinke in der Titelrolle von Shakespeares „König Lear“

Abschied in dunkler Nacht

William Shakespeare: König Lear

Theater:Schauspiel Köln, Premiere:23.09.2022Regie:Rafael Sanchez

„König Lear“ ist, absolut kein Geheimnis, einer der finstersten und monströsesten dramatischen Entwürfe der Theatergeschichte. Und der Regisseur Rafael Sanchez will ihn jetzt am Schauspiel Köln ganz, die Geworfenheit der Figuren, ihre Widerlichkeit, Schönheit, Chancenlosigkeit, eine Welt aus den Fugen, die vielleicht nie wieder eine Form findet, alles.

Folgerichtig ist „Nichts!“ das erste und letzte Wort dieses Abends, für den Simeon Meier die Bühne des Depot 1 in eine leere Öde verwandelt, in der es immer Nacht ist. Hier gelingen große Bilder: Da wird Lear im ersten Teil immer wieder von seinen „Männern“ auf einem gewaltigen quadratischen Brett thronend über die Bühne getragen; und zu Beginn des zweiten Teils der über dreistündigen Aufführung ist ein quadratisches Stück Boden ausgestanzt. Aus dem Schlamm, der Erde darunter, wühlt sich der geblendete Gloster heraus. Jener Morast, aus dem wir kommen und in dem wir wieder verschwinden, wie Schillers Franz Moor, ein anderer großer Nihilist, sagt, ist nur einen Bühnenboden entfernt von den Bewohnern dieser unbarmherzigen Welt – und dieser hängt zusätzlich wie ein Damoklesschwert über ihnen.

Starke Bilder, starke Sprache, viel Dekoration

Wie gesagt: starke Bilder, unterstützt durch die attraktiven zeitlos historischen Kostüme von Ursula Leuenberger. Und starke Sprache. Die haben Sanchez und sein sechsköpfiges Ensemble wirklich gearbeitet. Man versteht nicht nur, was gesagt wird, man versteht auch, was gemeint ist, in nahezu jedem Moment. Eine außergewöhnliche Leistung. Wozu sind aber dann die tanzenden Quadrate und Planeten in den Videos von Nazgol Emami nötig, die sich nicht mit dem Bühnengeschehen verbinden? Warum steht der großartige Live-Musiker Pablo Giw so oft im Mittelpunkt? Er ist ständig auf der Bühne anwesend, hört mit großer Präsenz zu, mischt live Sounds und handhabt seine Trompete virtuos und unkonventionell, aber eine dramaturgische Funktion hat er kaum (außer mit Fanfaren-Parodien Auftritte anzukündigen). Dieser Text braucht keine Illustration, weder optisch noch akustisch. Das Unwetter auf der Heide, die schreckliche Unbehaustheit vermittelt sich über die Worte und Gesichter des Ensembles. Der Schnee von oben und der Nebel von unten leisten hier nichts.

Eine weitere Schwierigkeit: Wie erwähnt sind in dieser Inszenierung (nur) sechs Schauspieler:innen besetzt. Arnt Knieriem hat auf Basis der bekannten Baudissin-Übersetzung eigens eine neue Spielfassung erstellt. Rafael Sanchez versucht dennoch, die komplette dramatische Architektur Shakespeares, das komplexe Gebilde aus Spiegelungen, Symmetrien, Antagonismen aufzubereiten. Und dafür fehlen ihm schlicht Leute. Sean McDonagh etwa ist am Anfang der loyale Gefolgsmann Kent, der Lear widerspricht, als er seine Tochter enterbt. Als Einziger, dafür braucht man ihn, damit die Ungeheuerlichkeit sichtbar wird und durch seine Verbannung noch gesteigert werden kann. Er kommt wieder, in Verkleidung, wird Lears Diener und auf eine Weise schlecht behandelt, die Lears Übergehen in Wahnsinn forciert. Dann sehen wir Kent noch einmal auf der Heide, dann nimmermehr. Denn seine Funktion für die Handlung ist erfüllt. Das Drama bräuchte ihn noch, aber die Inszenierung benötigt Sean McDonagh als hohl tönenden Bösewicht und Verführer Edmund. Zweites Beispiel: Wir erleben die Ehegatten der Töchter nicht auf der Bühne. Für den Schluss aber wird Gonerils Mann, der rechtschaffene Albany gebraucht, damit er durch seinen Ausstieg aus der Macht das Ende jeder Ordnung gleichsam beurkundet. Bruno Cathomas hatte seinen Gloster als Witzfigur begonnen und ihm dann zumindest soviel Würde erspielt, dass uns das Schicksal seiner Figur nicht gleichgültig ist. Als Albany spielt er nahezu bruchlos weiter, in anderem Kostüm, mit anderer Frisur und eine Spur langsameren Bewegungen. Eine zweite Figur entsteht so nicht, der Text mag es noch so sehr verlangen.

Auch mit den bösen Töchtern wird man nicht recht glücklich. Am Anfang ist das Verhältnis zum Vater scharf gezeichnet und macht neugierig. Besonders Goneril handelt sachlich, fast politisch. Man hat einen Funken Verständnis, wird neugierig. Diese Differenzierung gibt die Regie dann auf, lässt beide über die Bühne tigern, als seien sie in ihre Oberfläche aus Bosheit und Geilheit eingesperrt und löst ihre Szenen in Bilder auf. Da muss etwa Birgit Walter als Goneril zum Ende hin mehrfach staunenswerte Gelenkigkeit präsentieren oder Nicola Gründel als Regan mit dem begehrten Edmund lasziv immer wieder eine schiefe Ebene herunterrutschen. Auch hier findet die souveräne, detaillierte Textarbeit weder Figur noch Richtung.

Mensch, Shakespeare: Martin Reinke und Katharina Schmalenberg

Dennoch ist dieser „Lear“ sehr sehenswert. Weil es zwei herausragende schauspielerische Leistungen auf nicht alltäglichem Niveau zu bestaunen gibt. Und auch hierfür hat Rafael Sanchez den Raum geschaffen. Katharina Schmalenberg hat es mit gleich drei Rollen zu tun, mit dem betrogenen Bruder und Sohn Edgar, mit dem Narren und der jüngsten Tochter Cordelia. Und sie gebietet über die Mittel, mühelos drei Figuren hinzustellen, die uns alle rühren und teilweise auch amüsieren. Und sie verschmilzt sie zusätzlich zu einem Typus. Alle drei sind widerständige Menschen, verletzlich, aber sehr stark. Das Leben, die Bosheit, die anderen können sie ums Leben bringen, aber nicht zerstören. Weil sie ein Vertrauen haben in sich und uns alle, den Menschen an sich, trotz aller Enttäuschungen und Vorahnungen. Genau das erhellt diesen Abend sehr, auch wenn es der Inszenierung ein wenig genau daran zu fehlen scheint.

Und dann ist da Martin Reinke in der Titelrolle. 32 Jahre lang hat er am Schauspiel Köln Theater gespielt. Der „Lear“ ist seine letzte Rolle am Haus. Und er füllt sie aus, spielt am Anfang fast Komödie, ist ein lächerlicher Greis, schwingt sich dann nach und nach auf zu Empathie und Humanität. Die Zärtlichkeit, die er immer noch für Goneril hat, die mürrische Väterlichkeit, mit der er mit dem Narren umgeht, die kluge Selbstvergessenheit in der Begegnung mit Gloster, die zur Selbstfindung wird – haben wir das so schon einmal gesehen? Martin Reinke vermeidet jede „Größe“, wagt immer wieder gelassenes Parlando und wird dennoch oder deshalb zum überlebensgroßen, innigen Jedermann. Wir altern ja auch, viele von uns sind auch Eltern. Wir finden uns wieder in diesem Lear und dennoch geht nichts verloren, nichts vom Text, nichts von Größe, nichts von Dunkelheit. Sieh da, ein Mensch!!