Foto: Der „Community Sprechchor“ des Theaters Aachen mit Chorführerin Bettina Scheuritzel in der „Orestie“. © Thilo Beu
Text:Andreas Falentin, am 28. September 2025
Regisseur Florian Hertweck gelingt am Theater Aachen eine unterhaltsame Version von Aischylos‘ „Orestie“. Im Zentrum der anregenden Inszenierung steht ein Laienchor.
„Die Orestie“ von Aischylos als ein unterhaltsamer, phasenweise fröhlicher Abend. Es beginnt schon im Foyer: Da tritt der Community Sprechchor des Theaters Aachen auf und singt – klar und kraftvoll – „People have the Power“ und den Milva-Hit „Hurra! Wir leben noch!“. So präsentiert sich der Chor also als widerstands- und leidensfähig. Auf der Bühne folgt ein zweiter Prolog. Vier junge Schauspieler:innen, Greta Ebling, Elina Schkolnik, Lukas Karisch und Furkan Yaprak, sprechen über Theater und Demokratie.
Warum machen wir Theater? Warum machen sie dieses Stück? Das klingt vielleicht etwas langweilig und abgeschmackt, ist es aber gar nicht. Denn es wirkt durch die überzeugende Präsentation echt. Ihr Theater soll die Demokratie stärken, sagen die Vier, so wie es das Theater der Griechen auch getan habe. Immer wieder legen sie Spuren zu den alten Griechen, über den ganzen Abend verteilt. Und erzählen, warum sie sonst Theater machen: zur Unterhaltung, zur Bildung und um die Abonnenten zu befriedigen. Das ist natürlich nicht neu, aber sehr witzig präsentiert – und wird mit Publikumsabstimmungen gewürzt.
Dann tritt der Schauspieler Tim Knapper auf und rappt die Vorgeschichte, die Geschichten von Tantalos und Pelops, Atreus und Tyestes, den ganzen Atriden-Fluch. Das Gestell auf der Bühne, das wie eine Laubsägearbeit aussieht, wird, jetzt mit Namen behängt, zum anschaulichen Stammbaum (wie er sich sonst in Programmheften zu Antiken-Inszenierungen findet). Der Chor tritt auf, liefert die engere Vorgeschichte, die Opferung der Iphigenie, im gebundenen Originalton (wahrscheinlich von Euripides). Und das Spiel beginnt.
„Agamemnon“ – eine große Überraschung
Der erste Teil, „Agamemnon“, ist eine große Überraschung, besonders für die Fachleute. Denn das Ensemble Dlé – der Regisseur Florian Hertweck, der Schauspieler Tim Knapper und der Musiker Malcolm Kemp – sind bekannt für skurrile Rap-Musicals, wie in den letzten Jahren „House of Karls“ in Aachen und „Die Nibelungen“ in Mannheim, wo sie alte Mythen mit Popkultur verkochten und gerappte Lieder einstreuten. Hier wird „nur“ bemerkenswert locker und sprachlich sehr exakt bearbeitet.
Der Community Sprechchor, 16 Aachener Bürgerinnen, wird angeführt und angeleitet von der Schauspielerin Bettina Scheuritzel (und unterstützt von der Theaterpädagogin Katrin Eickholt) – ist der Mittelpunkt dieses ersten Stückes. Diese Menschen sind vernünftig und ein bisschen hysterisch, sie haben Angst um ihr Leben und ihr Land und sie wissen, was mit den Protagonisten los ist. Sie sind alle Opfer des trojanischen Kriegs und des Atriden-Fluchs, auch, oder sogar: besonders, Klytämnestra und Ägisth (Stefanie Rösner und Benedikt Voellmy). Sie kämpfen um ihr Überleben, sind überhaupt nicht „Die Bösen“, sondern interessant, fast sympathisch – eine große schauspielerische Leistung. Agamemnon (Tim Knapper), der aus dem Rang auftrat, wirkt unsicher, überfordert mit seiner Heimkehr, mit der Versöhnung mit der Frau. Auch er – ein Opfer.
Wir, das Publikum, sind drin in dieser Fluch-Situation wie selten. Dabei wurde nur die Peter-Stein-Übersetzung gespielt, ohne Rap, mit wenigen Kürzungen, ohne die gewohnten wilden Kostüme von Kathrin Krumbein, die hier einfach genau sind und nie ablenken; der Bühnenraum von Jana Wassong erweist sich als sehr flexibel. Besonders überzeugt der ausgezeichnete Laienchor, der dem Publikum ein faszinierendes Fundament bietet, fast eine Tür zum alten Griechenland. Nur Cassandra (Elina Schkolnik) funktioniert nicht überzeugend, ihre Angst wirkt zu klein, ihre Fremdheit bleibt Behauptung, die Konversation mit dem Chor klingt nach Konversation.
„Die Choephoren“ – ganz von heute
Im zweiten Teil, den „Choephoren“, glänzt der Chor durch Abwesenheit. Die Skene, die Hinterbühne des griechischen Theaters, die im ersten Teil die Bühne abschloss, dreht sich, wir sehen das Innere des Palasts. Es kommt Video zum Einsatz, die Schauspieler:innen sind jetzt mikrofoniert. Tim Knapper und Elina Schkolnik sind Fernsehmoderatoren, die zwei Doppelmorde rekonstruieren – den an Agamemnon und Cassandra, der schon stattfand und den am Klytämnestra und Ägisth, der gleich erfolgen wird. Elektra (Greta Ebling), Orest (Furkan Yaprak) und Pylades (Lukas Karisch) sprechen gut, haben nicht so viel Raum wie die Protagonisten im ersten Stück, bleiben Abziehbilder im Videoland. Die Opfer, Klytämnestra und Ägisth schießen wieder ins Zentrum. Ihr Mord ereignet sich schnell und wird skurril überhöht.
Wir sind also wieder in der Gegenwart angekommen. Wir haben eine Aufführung gesehen, die unterhaltsam war, uns niederschwellig vermittelt wurde und – wahrscheinlich – auch die Abonnent:innen zufriedengestellt hat. Im dritten Teil bei Aischylos, „Die Eumeniden“, geht es um die Schuld des Orest. Das Morden kann nicht immer weitergehen, deswegen bestimmt die Göttin Athene einen Freispruch für Orest und domestiziert die Rachegöttinnen in respektvoller Weise. In Aachen diskutieren die Schauspielerinnen und Schauspieler diese Entscheidung. Es gibt wohl keine Lösung, auch weil 485 v. Chr. und 2025 sehr weit voneinander entfernt sind. Der Chor tritt noch einmal auf, selbstermächtigt, ohne Chorführerin, spricht noch einmal, wie schon zu Beginn, vom Dreiklang des Fortschritts: „Tun, Leiden, Lernen“. Ein gutes Ende, eine grandiose Vorstellung, die viel zu denken gibt.
Ich bin hingegangen, um eine spartenübergreifende Arbeit zu sehen – und sah eine große Schauspielproduktion!