Michele Cuciuffo und Katharina Müller-Elmau in „Die Wahrheiten” von Lutz Hübner und Sarah Nemitz am Meropoltheater München

„Es müssen die brennenden Themen auf die Bühne!“

Dramatikers Lutz Hübner plädiert für ein Theater der Inhalte

aus Heft 12/2021 zum Schwerpunkt »Das unterschätzte Genre«

Dramatikers Lutz Hübner plädiert für ein Theater der Inhalte

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Unter Hardrock-Fans der Achtziger gab es klare Kriterien zur Beurteilung von Musik. Entweder „geil, geht ab, fetzt, heißer Scheiß“  oder „kommerziell“. Letzteres war unwiderruflich und bedeutete, dass eine Band, die einmal subversiv, revolutionär und echt war (heute würde man sagen: authentisch), ihre Seele den „Plattenbossen“ verkauft hatte und nur noch Routine ablieferte. Das klingt als Kriterium einfach, war es aber nicht. Man hatte sich die neue Platte der Lieblingsband besorgt, zuhause durchgehört, erzählte den anderen Nerds begeistert von diesem Hörerlebnis und bekam vom amtierenden Guru zu hören: „Total kommerziell.“ Man war blamiert, wie konnte man das nur überhören, wieso war man darauf reingefallen? Wieso hatte man das Werk selig genossen, obwohl das nur Handwerk und schnöde Routine war? Es war möglich, weil kommerziell ebenso wenig definiert war wie heute im Theater Well-made Play. Das liegt in der Natur von Kampfbegriffen, die eben keine klaren Einordnungen zum Ziel haben, sondern Abgrenzungen. Denn der Terminus Well-made Play wird (da genügt eine kleine Presseschau) meist abwertend gebraucht. Das ist etwas, dass der Wirkungsmechaniker in seiner Werkstatt mit kaltem Herzen zusammenschraubt, während der wahre Künstler sein blutendes Herz über den Zaun wirft und damit authentisch erscheint. (Der Dichter Sergei Alexandrowitsch Jessenin, der sterbend mit seinem Blut ein Abschiedsgedicht auf dem Spiegel schreibt.) Es würde zu weit führen, hier darzulegen, dass das Authentische in der Kunst auch nur eine Aufmerksamkeitsstrategie ist. Hier geht es um unscharfe Begrifflichkeiten, also nicht darum, was ein Well-made Play laut Definition eigentlich bezeichnet, sondern wie und wo der Begriff verwendet wird.

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Ein Theaterstück, in dem eine Geschichte mit psychologisch nachvollziehbaren Charakteren (mehr oder weniger) chronologisch über Dialoge erzählt wird und vom Zuschauer ohne Vorkenntnisse oder Vermittlungsinstanzen rezipiert werden kann. Ein Theater also, in dem das Publikum mit den Darsteller:innen einen Vertrag schließt, dass auf der Bühne eine Wirklichkeit behauptet wird, in der sie agieren, ohne als Privatpersonen zu kommentieren oder zu bewerten. Das wäre, ohne über Themen zu sprechen, eine rein formale Beschreibung eines Theaterabends, der von einem Großteil der Kritik und des theateraffinen Publikums höchstwahrscheinlich als Well-made Play beschrieben würde. (Vielleicht könnte man als Kriterium noch hinzufügen, dass die Spieldauer eines solchen Abends so bemessen ist, dass danach noch ein warmes Abendessen oder eine Rückfahrt mit dem ÖPNV möglich ist.) Ein Theater, das für einen großen Teil der Gesellschaft, trotz aller performativen Entwicklungen, immer noch die Definition von Theater an sich ist und seiner Erwartungshaltung entspricht. Das soll kein Plädoyer für einen kulturellen Konservativismus sein, sondern lediglich eine Beobachtung. Natürlich wollen die Leute keine bemalten Pappkulissen mehr und auch keinen Hamlet in Strumpfhosen. Sie wollen eine Geschichte erleben, die sie berührt und ihnen die Möglichkeit gibt, das Gesehene mit den eigenen Erfahrungen, Hoffnungen und Ängsten kurzuschließen. Sie sind bereit, Interesse (lateinisch für: dabei sein, mitmachen) zu entwickeln und erwarten von der Bühne ein klares Angebot, auf eine Reise mitgenommen zu werden (die sehr weit in unbekannte Gefilde führen kann). Das ist in etwa das theatralische Biotop dessen, was oft als Well-made Play bezeichnet wird. Ein Theater der Geschichten, hauptsächlich in Dialogen erzählt. Nicht automatisch der effektsicheren und leichtgewichtigen Geschichten (wobei der Begriff manchmal darauf reduziert wird), sondern der Geschichten, die, um funktionieren zu können, mit der Lebenswelt des Publikums korrespondieren. Direkt. Und vielleicht liegt da der Hase im Pfeffer. Mit dem Urteil kommerziell hatte der Headbanger der Achtziger Deutungsmacht und wenn er schon nicht verhindern konnte, dass alle zu der Platte tanzten, die er abgetan hatte, dann konnte er wenigstens dafür sorgen, dass man dabei ein schlechtes Gewissen hatte. Wer ein Problem damit hat, dass Yasmina Rezas Stücke sich ungebrochener Beliebtheit erfreuen, kann sie immer noch süffisant als Well-made Play titulieren oder, wenn man noch etwas fester zutreten will, als Edel-Boulevard. Da steht dann der Theater Connaisseur einträchtig neben dem Freak im verwaschenen Tour-Shirt – die Priester der Deutungsmacht, die Ritter der Distinktion.

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Natürlich ist es die Aufgabe des Theatermachers, sein Publikum zu überfordern und Gewissheiten zu erschüttern. Affirmative Kunst ist überraschungslos und damit langweilig. Nur ist es nicht zwangsläufig ein Erfolgsrezept, eine überraschende Form zu wählen, ohne Themen, welche die gewählte Form zwingend notwendig machen. Form follows function. Es gibt Stoffe, die mit einem Theater der Geschichten (aka Well-made Play) nicht zu greifen sind, aber das stellt sich meist erst heraus, wenn man tiefer in einen Stoff, ein Thema eingedrungen ist. Eine Form an sich ist nicht konventionell oder originell, höchstens ein Thema und wie es behandelt wird. Ein Experiment ist nicht per se avantgardistisch und wegweisend, sondern der spezifische Blick auf die Dinge und selbst der mutigste Zugang zu einem Thema muss irgendwo offene Synapsen haben, an die ein Publikum andocken kann. In einer Verlagswerbung las ich den lustigen Satz: „Dieses Stück bietet dem Well-made Play Paroli.“ Da könnte man auch gegen Ölmalerei demonstrieren.

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Einige Sätze dazu, warum das Theater Geschichten braucht und immer wieder auf sie zurückkommen wird. Jonathan Gottshall definiert in „The storytelling animal“ die Funktion von Geschichten als Informationsweitergabe (Survival of the best informed: Homo sapiens konnte sich durchsetzen, weil sich die Horde am Abend über alles austauschte, was dem Überleben der Gruppe nutzt), aber auch als Training und Vorbereitung. Wir haben einen Hunger nach Geschichten, weil sie uns Situationen und Entscheidungen präsentieren, anhand derer wir unser eigenes Verhalten überprüfen können – beziehungsweise überhaupt erst einmal eine Haltung entwickeln können. Nicht als rationale Überlegung, sondern indem wir so tief in die Geschichte einsteigen, dass unser Interesse emotional und unwillkürlich ist (und nicht unserem kühlen, rationalen Selbstbild entspricht). Das funktioniert am besten, wenn jemand diese Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes für uns „verkörpert“… also spielt. Es braucht im Idealfall eine Art von Ergriffenheit (noch so ein schönes, anschauliches Wort) damit das funktioniert. Theater bedeutet Emotion, Dialektik und Zwiespalt. Ein Theater, das ausschließlich über die eigene Form reflektiert, das Themen referiert, aber nicht in Storytelling transformiert und nur Statements abgibt, wo Konflikte sein sollten, ist ein Theater, in dem Rezepte vorgelesen werden, aber niemand etwas zu essen bekommt. (Ende des pathetischen Inserts.)

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Der Begriff Well-made Play ist eine Kategorie der Wertung von außen; in der Produktion, also der Zusammenarbeit von Autor:in und Theater spielt er keine Rolle. Und vielleicht muss man an dieser Stelle noch einmal klar zwischen Text und Umsetzung trennen: Wenn man als Autor:in psychologisch genaue Charaktere und naturalistische Dialoge schreibt, heißt das nicht, dass man diese genau so und nicht anders auch auf der Bühne sehen will. Man versucht, ein tragfähiges Gerüst zu schaffen und freut sich dann über jede mutige Regieidee, welche die Belastbarkeit überprüft. Anything goes – solange der Kern der Geschichte erhalten bleibt. Entscheidet also der Text, ob ein Stück als Well-made Play zu gelten hat oder die Inszenierung? Wie man es dreht und wendet, der Begriff eignet sich nur schlecht, um Theater zu beschreiben und möglicherweise müssen wir in der nächsten Zeit um das Theater andere Schlachten schlagen als die über Formen und Erzählweisen. Was auf der Bühne passiert, sollte vor allem mit dieser erschütterten Gesellschaft und dem Veränderungsbedarf unserer Welt zu tun haben – es müssen die brennenden Themen auf die Bühne, egal, wie sie erzählt werden.