Rolf Hochhuth auf dem Balkon des Berliner Ensembles

Zum Tod von Rolf Hochhuth

Das Bild bleibt unvergessen – im Foyer des Berliner Ensembles steht Rolf Hochhuth und verteilt den extra angelieferten originalen Text seines jüngsten Stückes über „Wessies in Weimar“ als kostenloses Programmbuch. Die zur Uraufführung anreisende Kritikerschaft hatte das Material schon vorher zugeschickt bekommen: ein Klotz Papier, um die 300 Seiten, dokumentierende Zeitungstexte und unüberschaubare Zugaben als Regie-Anweisungen inklusive. Im Vorfeld war ja durchgesickert, dass sich der Uraufführungsregisseur Einar Schleef eher nicht an Hochhuths Vorschriften würde halten wollen – darum ging der Autor in die Offensive. Ohnehin hatte er sich in früheren Aufführungen regelmäßig missverstanden gefühlt, sich selten wirklich wiedergefunden in den Positionen, die Regisseurinnen und Regisseure zu seinen Stücken einnahmen.

Auf dem zweiten unvergessenenen Bild kommt der Autor selber gar nicht vor, obwohl er anwesend ist: 1999 hatte der jetzt verstorbene Dramatiker „Wessies in Weimar“ selber inszeniert, am Berliner Schlosspark-Theater mit einem frei sortierten Ensemble. Doch es lag nicht an den Schauspielerinnen und Schauspielern, dass der Abend zur fulminanten Katastrophe führte. Hochhuth war handwerklich  überfordert, und gerade dadurch zeigte sich mehr als sonst  die holzschnitthafte Schwäche des Textes. Dass er sich dem lauthals geäußerten Widerspruch des Publikums nicht zu stellen wagte, hat das Bild vom „mutigen Streiter“ stark beschädigt.

Natürlich aber schmälern die Irr- und Abwege des Rolf Hochhuth in keiner Weise die enorme Bedeutung für Kultur und Politik in west- und ostdeutscher Nachkriegszeit. Dem gelernten Buchhändler aus dem nordhessischen Eschwege, mit Mitte 20 Verlagslektor geworden, gelingt mit dem Theatertext „Der Stellvertreter“, seiner  ersten eigenen literarischen Arbeit, eine Sensation von bis dahin nicht bekannter Wirkung und Wucht. Zunächst agitiert die katholische Kirche grundsätzlich gegen die Veröffentlichung des Textes, der das politische Schweigen von Papst Pius XII. zur Judenvernichtung in Deutschland und Europa ins Visier nimmt; nach der Uraufführung durch Erwin Piscator an der „Freien Volksbühne“ in Berlin 1963 bricht sogar eine Art Kulturkampf um Hochhuths Thesen und Analysen aus. Kanzler Ludwig Erhard bezeichnet Leute wie Hochhuth als „Pinscher“. Keine literarische Stimme in europäischer Nachkriegszeit hat je derartige Wirkung hervorgerufen; vergleichbar ist Hochhuths Einfluss in diesem Moment nur mit dem „J’accuse“ von Emile Zola, dem Aufschrei des französischen Schriftstellers gegen die unrechtmäßige Verurteilung des Offiziers Alfred Dreyfus. Das war 1894.

Hochhuth hatte in „Der Stellvertreter“ aus recherchierten Fakten und historisch handelnden Figuren eine Anklage von furioser Kraft montiert; zugleich aber entwickelt sich dieser unbestreitbare Geniestreich sehr bald schon zu einer Art Fluch. Schon mit „Soldaten“ 1967 und erst recht mit „Guerrillas“ weitere drei Jahre später funktioniert zwar die Schreib-Methode weiter, aber dem Theater beginnt sich der Autor Hochhuth deutlich zu entfremden. Das bleibt so bei den späteren Stücken über „Ärztinnen“ und „Juristen“; und das hört auch mit den „Wessis in Weimar“ nicht auf. Hochhuth schreibt weiterhin auf, was und wie er denkt über die politischen und moralischen Herausforderungen. Aber Gedanken, Positionen und Polemiken wirken wie am Reißbrett entworfen – ohne literarische Tiefe, vor allem aber ohne das, was im Theater mitentscheidend ist: das Geheimnis.

Literarisch gelingen dem Erzähler Hochhuth immer wieder historische Porträts, über Alan Turing etwa, der die „Enigma“-Kriegsmaschine der Nazis entschlüsselte und als Erfinder des Computers gilt, oder über den alten, zum Sterben bereiten Ernest Hemingway. „Eine Liebe in Deutschland“, eine starke Prosa-Recherche, geht inhaltlich dem Streit um die Nazi-Vergangenheit von Hans Filbinger voraus, dem früheren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Der muss zurücktreten: Weil Hochhuth ihn angriff!

Aber nur gelegentlich lassen sich Erzählungen auch in Theater verwandeln; etwa „Effis Nacht“. Hochhuth bleibt produktiv, aber die Theater wollen ihn kaum noch spielen. Als er im Namen der eigenen Mutter und unter deren Mädchennamen Ilse Holzapfel eine Stiftung gründet, die das Grundstück erwirbt, auf dem das (privat strukturierte) Berliner Ensemble betrieben wird, streitet er um den Zugriff auf ein Haus, das (auch) Hochhuth-Stücke spielt; in einer Art Kompromiss kam so „Der Stellvertreter“ wieder auf den Spielplan.

Seit der ‚Stellvertreter‘-Zeit war Rolf Hochhuth in Basel daheim, er schrieb fleißig; Buchkritiken von ihm (unter anderem vom NDR immer wieder gesendet) eröffnen klug ausformulierte Analysen etwa über die Gedankenwelt von Oswald Spengler. Dessen Vorstellung, dass „das Abendland“ untergehen werde, genauer: die Vorstellung von Zivilisation auf der es basiert, hat Rolf Hochhuth geteilt. In Berlin bezog er 2004 eine Wohnung gleich beim Potsdamer Platz; mit Blick auf das Holocaust-Denkmal. Hier fand er das zentrale Motiv der eigenen Arbeit in Stelen gegossen.

Den inneren Kampf mit und gegen das verfluchte Erbe des Nationalsozialismus hat er lebenslang geführt; unermüdlich hat er deutsche Schuld thematisiert, weil er sie auch selbst empfand. Rolf, das Kind, 1931 geboren, hatte die Transporte von Juden und anderen Opfern der faschistischen Mord-Maschine im heimischen Eschwege bemerkt, aber als Kind nicht verstanden. Spät erst hat er (im Radio auch vorgelesen mit dem typisch rollenden und „ch“-artigen „R“ der näheren Heimat) biographische Skizzen über diese abgeschiedene nordhessische Region vorgelegt, um die Ecke sozusagen von der deutsch-deutschen Grenze  – in ihnen ist das moralische Programm versammelt, das ihn nie wieder losgelassen hat.

Und in dieser Hinsicht vor allem ist er wohl tatsächlich der letzte seiner Art: einer, der wie ein Archivar in den Reichtümern der Literatur zu Hause war und zugleich zum unermüdlichen Fakten-Schürfer in den Steinbrüchen der Geschichte wurde, vor allem natürlich der europäischen mit deren unablässiger Folge von Unrecht, Krieg und Gewalt. Wer so sehr wie er auf Moralität setzte gegenüber den Schrecken der Geschichte, musste wohl (und müsste auch heute!) zum ewigen Störenfried werden, zum Unruhestifter, zur Nervensäge; unerträglich im Angesicht der Unerträglichkeit. Rolf Hochuth starb am 13. Mai 2020 im Alter von 89 Jahren.