Das Symposion „Giftiges Erbe - Brauchen wir einen Kanon?” an den Münchner Kammerspielen

Symposium „Giftiges Erbe”: Einer für Alle?

Der Dramatiker Lukas Bärfuss kuratiert das Forum des diesjährigen Münchner Literaturfests. In einem Symposium an den Münchner Kammerspielen drehte sich alles um die Frage: „Giftiges Erbe – Brauchen wir einen Kanon?“

Zu Beginn dieses Abends stellen die „Zwischenruferinnen“ Susanne Burkhardt (Deutschlandfunk) und Elena Philipp (nachtkritik.de) dem voll besetzten Saal der Kammerspiele eine Frage: Wer hält einen Kanon, also eine Zusammenstellung von Werken mit zeitüberdauernder Wirkung, für überflüssig? Nur fünf bejahen das, alle anderen glauben an den Sinn eines Kanons. Es wäre interessant gewesen, dieselbe Frage am Ende noch einmal zu stellen, doch daran hat nach den vier (statt der geplanten drei) Stunden leider niemand mehr gedacht. Es bleibt also bei der Vermutung, dass einige ihre Meinung geändert haben dürften.

In einer Keynote nimmt Albrecht Koschorke, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz, erstmal eine nicht unkomplexe Bestandsaufnahme vor. Der Begriff des Kanons wie auch der Kant’sche Schönheitsanspruch seien seit den 1970er Jahren, seit Feminismus und Aktivismus, in Auflösung begriffen. Er sagt Sätze wie: „Aus Fixsternen wie Beethoven werden überrepräsentierte alte weiße Männer.“ Und stellt die These in den Raum, dass ein Kanon möglicherweise nur eine Behelfsstrategie aus Zeiten mit beschränkten Speichermöglichkeiten (eines „Small Data Environments“) sei – nach der digitalen Revolution also ohnehin hinfällig? Auf der anderen Seite könne ein Kanon in einer unsicheren Weltlage etwas Verbindendes sein. Schon zu Beginn ist also das Dilemma klar: ein Kanon ist kulturelles Erbe und Herrschaftsanspruch in einem.

Ausgrenzung statt Verbindung

Ein Kanon hebt einige wenige (nach nicht immer durchschaubaren Kriterien) ins Rampenlicht und schließt umso mehr andere aus. Er könnte ein Anker sein in einer konfuser werdenden Welt – diese Bücher und Werke, die alle kennen und auf die sich alle beziehen können. Allzu oft aber hat er etwas Trennendes: weil er zu elitär, zu unverständlich, zu rassistisch ist. Beispiel: Wolfgang Koeppens Nachkriegsroman „Tauben im Gras“ ist Pflichtlektüre für das Abitur an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg. Ein Roman, in dem (Susanne Burkhardt hat gezählt) über hundertmal das N-Wort fällt. Teilweise in einer hochfrequenten Nennung und mit „einer gewissen Lust“, wie Jürgen Kaube, Herausgeber der FAZ formuliert. Die Lehrerin Jasmin Blunt hat eine Petition gegen diesen Roman als Pflichtlektüre gestartet: Sie weiß nicht, was hier das Lernziel sein soll, und hält den Roman zu Recht für eine Zumutung für schwarze Schüler:innen. Wer da nun meint, 2023 herrsche Konsens darüber, dass sie Recht hat, der muss sich schon wundern, mit welcher Vehemenz Carola Lentz, Präsidentin des Goethe-Instituts, den Roman verteidigt, und wie unwesentlich ihr dieser Aspekt erscheint.

Lukas Bärfuss

Lukas Bärfuss. Foto: Judith Buss

Das Thema ist unglaublich komplex, das wird an diesem langen, aber nie langweiligen Abend mehr als deutlich. Die Münchner Kammerspiele sind ein passender Ort für diese Debatten, prallten hier doch in den vergangenen Jahren immer wieder sehr unterschiedliche Auffassungen vom Umgang mit dem dramatischen und ästhetischen Erbe aufeinander. Einer der Hauptstreitpunkte: die Inklusion, die sich Barbara Mundel auf die Fahnen ihrer Intendanz geschrieben hat. Im Februar hatte „Anti·gone“, eine Sophokles-Bearbeitung in leichter Sprache, im Schauspielhaus Premiere. Die Reaktionen waren gespalten, von Lob bis harscher Kritik war alles dabei.

Umgang mit Klassikern

Darf man so mit Klassikern umgehen? Muss man es vielleicht sogar? In einem der vier Panels dieses Abends liest Ensemble-Mitglied und Antigone-Darstellerin Johanna Kappauf eine Szene in drei verschiedenen Übersetzungen: Friedrich Hölderlin, Peter Krumme und Anne Leichtfuß, die die Fassung in leichter Sprache verfasst hat. Eines wird im direkten Vergleich sehr deutlich: Leichte Sprache bedeutet nicht etwa Sophokles für Dummies, sondern vielmehr Sophokles für alle. Sophokles verständlich und direkt. Was Anne Leichtfuß im folgenden Gespräch sagt, stimmt nachdenklich: Etwa 14 Millionen Menschen in Deutschland sind die Zielgruppe leichter Sprache. Dazu gehören „Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten“ ebenso wie Nicht-Muttersprachler:innen, Menschen mit Demenz oder Leseschwierigkeiten.

„Anti·gone“ ist die erste Inszenierung, die dem Rechnung trägt. Und die bisher einzige. An den Kammerspielen. In München. In Deutschland. Eine Inszenierung für 14 Millionen Menschen. Ist es da nicht ziemlich arrogant, dieses Bemühen um mehr Zugänglichkeit und Gleichberechtigung als „simplifizierend“, als „didaktisch und moralisch bevormundendes Theater“ abzutun, wie es die Süddeutsche Zeitung am 8. April tat? Wer keine Lust hat, sich das anzuschauen, muss das nicht tun. In München gibt es gleich gegenüber am Residenztheater eine weitere Inszenierung des beliebten Stücks. Für viele aber ist es eine Chance, sich einem klassischen Stoff zu nähern. Die einzige.

Raum für Neues

Dieser Abend ist so voller Impulse, dass es unmöglich ist, hier allen nachzugehen. Großartig auch, wie die Autorin Sivan Ben Yishai ihre „Nora“-Überschreibung als One-Woman-Show performt, wie sie sich am Werk von Henrik Ibsen ausgehend vom Personenverzeichnis abarbeitete. – Am Ende steht vielleicht eine Erkenntnis: Lesen ist wichtig. Theater ist wichtig. Und Reden ist vielleicht am wichtigsten. Der so kluge Lukas Bärfuss fasst das Dilemma des Kanons am Ende sehr schön zusammen: „Wir geben lieb gewonnene Dinge ungern auf, auch wenn sie toxisch sind.“ Ein kleiner Trost vielleicht: Wo etwas aufgegeben wird, entsteht Raum für Neues.

Und noch ein Gedanke macht sich breit: Vielleicht – wahrscheinlich – gab es ihn sowieso noch nie, war er immer ein elitäres Hirngespinst: dieser eine Kanon für alle. Denn diese „alle“ waren immer nur eine kleine ausgewählte Gruppe. Die zehn, fünfzig oder gar hundert Werke, die „alle“ kennen, immer eine Illusion. Es wäre doch schon schön, wenn jede:r überhaupt zehn, fünfzig oder gar hundert Bücher gelesen hätte, wenn also Schulen, Kultur- und Bildungsinstitutionen Lust aufs Lesen und die lebendige Auseinandersetzung mit Literatur machen und sich für eine Demokratisierung der Kultur stark machen würden. Durchaus auch mit Hilfe von leichter Sprache. Die Grundfrage ist doch: Was will das Theater sein? Textbewahrungsanstalt oder ein Ort lebendiger Auseinandersetzung mit Texten und Wirklichkeiten. So wie Texte sich verändern sollen und dürfen, verändert sich schließlich auch die Welt. Das Theater kann und sollte ein Ort sein, der diese Welt (und ihre Literatur) als veränderbare zeigt. Eine Spielwiese für neue Ideen und Herangehensweise, eine Probebühne für die Realität.