„Staubfrau“ von Maria Milisavljević am Schauspielhaus Zürich.

Starke neue Stimme

Maria Milisavljević gewinnt den Stücke-Preis der 50. Mülheimer Theatertage. Über die Abschluss-Debatte und Preis-Kür beim „Stücke-Festival“.

Vier Minuten fehlten noch bis Mitternacht, als sich mitten im Gewitter über Mülheim in der Stadthalle die Entscheidung abzeichnete: Jury-Mitglied Stephan Reuter änderte seine Meinung – die Mehrheit war gefunden. „Staubfrau“, das in Zürich uraufgeführte Stück von Maria Milisavljević, hat den mit 15.000 Euro dotierten „Stücke“-Preis beim Finale der Theatertage in Mülheim an der Ruhr zuerkannt bekommen. Die haben in diesem Jahr zum 50. Mal stattgefunden, und die seit Langem übliche, live gestreamte öffentliche Jury-Debatte hatte einige ziemlich dramatische Momente.

„Staubfrau“ von Maria Milisavljević am Schauspielhaus Zürich. Foto: Sabina Bösch

„Staubfrau“ von Maria Milisavljević am Schauspielhaus Zürich. Foto: Sabina Bösch

Tradition vertagt

Vor allem nach etwa zwei Stunden fiel eine Art Richtungsentscheidung: für tatsächlich neue Stimmen im Theater und gegen vertraute Formen dramatischer Meisterschaft. Etwa so hatte es Barbara Behrendt formuliert und zugespitzt, Kultur-Journalistin aus Berlin, wichtige Autorin für DIE DEUTSCHE BÜHNE und viel für Radio-Sender tätig. Neben Reuter, der als Vertreter der Auswahljury auch bei der Preisvergabe mitwirkte, vertrat Behrendt die Seite der Kritik. Auf dem Podium saß außerdem Regisseurin Nora Schlocker, Andreas Karlaganis war als Dramaturg und künftiger Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses dabei, und Schauspielerin Valery Tscheplanowa komplettierte das Jury-Quintett. Janis El-Bira, Mitglied der Nachtkritik-Redaktion, hat moderiert.

Um also neue gegenüber vertrauten Stimmen zu stärken, nahm die Runde schon nach der ersten, intensiven Debatte Abschied von Elfriede Jelinek, die den Preis bereits viermal erhalten hat—nominiert waren ihre Texte sehr viel häufiger. Jetzt war „Asche“ eins der sieben Stücke der Endauswahl, bereits mehrfach inszeniert und nach Mülheim entsandt vom Hamburger Thalia Theater in der Inszenierung von Jette Steckel. In jüngerer Zeit hatten Jelineks Texte immer mal wieder nur geringe Chancen in Mülheim – meist mit demselben, nicht besonders überzeugenden Argument: Die Dramatikerin habe schon zu oft gewonnen.

Raphaela Bardutzkys Stück „Altbau in zentraler Lage. Eine Schaueroper“, uraufgeführt in Leipzig, hatte die Jury zuvor mit Mehrheit und viel weniger Bauchschmerzen verabschiedet, ebenso „Doping“ von Nora Abdel-Maksoud; die Autorin selber hatte das Stück für die Münchner Kammerspiele inszeniert. „Frau Yamamoto ist noch da“, Dea Lohers (nach langer Pause) neuer Text für die Bühne, uraufgeführt zeitgleich in Tokio und Zürich, eingeladen aber in der Stuttgarter Fassung, blieb zwar im finalen Stücke-Quartett, wurde aber nicht mehr ernsthaft weiter diskutiert. Am Ende standen die Stücke dreier Mülheimer Neulinge zur Wahl – Milisavljevićs „Staubfrau“ mit zwei Jury-Stimmen, „They Them Okocha“ von Bonn Park, uraufgeführt vom Autor in Frankfurt und ebenfalls zweimal favorisiert in der Jury, und schließlich „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“, die Doku-Fiction um einen rechten Bürgermeister in ostdeutscher Provinz, uraufgeführt am Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau und Görlitz. Für diese Produktion votierte ein Juror und wurde letztlich zum Zünglein an der Waage, weil er sich in letzter Minute für Milisavljević entschied.

Fayer Kochs „T-Rex, bist du traurig? (Steht dein T für Tränen?)“ am Theater der Jungen Welt Leipzig. Foto: Tom Schulze

Fayer Kochs „T-Rex, bist du traurig? (Steht dein T für Tränen?)“ am Theater der Jungen Welt Leipzig. Foto: Tom Schulze

Ganz nebenbei gaben gleich zwei Jury-Mitglieder zu, die Produktion aus Sachsen lediglich als Videoaufzeichnung gesehen zu haben. Ist nicht jedoch die Jury dazu verpflichtet, alle Inszenierungen vor Ort in Mülheim zu sehen? In der Debatte um Bonn Park fiel auf, dass die beiden vehementesten Befürworterinnen des Stücks über kollektives Erinnern (und den früheren Frankfurter Fußball-Star Jay-Jay Okocha) offenbar kaum mit den früheren Arbeiten des Dramatikers vertraut waren – Park war für sie gewissermaßen eine Entdeckung, vielleicht gerade deshalb so begeisternd.

Zwischentöne der Ehrung

„Staubfrau“, ein ebenso harter wie poetischer Text über Gewalt gegen Frauen, erhielt schließlich auch den Publikumspreis – erstmals vergeben und mit weiteren 5.000 Euro von der Mülheimer Bürgerstiftung dotiert. Tage zuvor hatte bereits „T-Rex, bist du traurig? (Steht dein T für Tränen?)“ vom Leipziger Autor Fayer Koch den wie der Hauptpreis mit 15.000 Euro dotierten „KinderStückePreis“ erhalten. Der Preis der Jugend-Jury ging an „Freddie und die ganze Katastrophe“ vom Ensemble Mummpitz.

„Asche“ von Jette Steckel mit Barbara Nüsse, Jirka Zett, Franziska Hartmann, Björn Meyer (v.l.n.r.). Foto: Armin Smailovic

„Asche“ von Jette Steckel. V.l.n.r.: Barbara Nüsse, Jirka Zett, Franziska Hartmann und Björn Meyer. Foto: Armin Smailovic

Und noch ein Preis ist in Mülheim vergeben worden, vielleicht der schönste und persönlichste – er erinnert an die Schauspielerin Gordana-Kosanović, die früh starb und zu Roberto Ciullis Ensemble im Mülheimer Theater an der Ruhr gehört hatte. Ihn erhält Barbara Nüsse – und sie war in Mülheim Teil von Steckels „Asche“-Inszenierung am Hamburger Thalia Theater.

Und so ist Elfriede Jelinek dann doch noch ins Mülheimer Preis-Tableau gerutscht. Auf einem sehr schönen Umweg.