Der belgische Dramatiker Stijn Devillé

Draußen steht die Welt in Flammen

Auf der Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins am Theater Koblenz hielt der belgische Regisseur, Dramatiker und Intendant Stijn Devillé einen Impuls zur Kraft der Darstellenden Künste. Lesen Sie hier seine vollständige Rede.

Liebe Leute,
liebes Publikum,

ich wünsche Ihnen einen
guten Tag
draußen scheint die Sonne.

Und wir sitzen hier drinnen,
um über Kunst zu reden.

Was aber viel schlimmer ist:
Draußen steht die Welt in Flammen.
Und wir sitzen hier drinnen,
um über Kunst zu reden.

Das sind schon mal zwei Gründe,
warum sich jede Faser meines Körpers
gewissermaßen wehren will,
noch länger hier drinnen zu bleiben.

(Ein dritter Grund ist
natürlich
meine klägliche Beherrschung
der Sprache von Goethe und Schiller und
meine Angst davor gewaltig zu scheitern.)

Sei’s drum.
Ich bin ein Künstler.
Auch wenn die Sonne scheint und die Welt in Flammen steht.
Warum also?

Weil ich denke, dass Kunst immer um Menschen, um das Leben und
damit auch um die Welt geht.

Sogar in Zeiten, in denen Kunst offensichtlich verweigert dies zu
tun.
Das ist das Paradox.

1.

Ich hab Stillleben immer schon gehasst.

Ich fand sie langweilig und überflüssig.

In meinen Augen
symbolisierten sie Stillstand.

Das rieb sich mit dem Tatendrang
den ich selbst als junger Theatermacher verspürte.

Ich fand Stillleben selbstgefällig. Bürgerlich. Eitel.

Etwas für Sonntagsmaler mit zu wenig Fantasie
und zu viel Zeit.
Ein lächerliches Genre.

Nature morte sagt man auf Französisch.
Ich kann es nicht trefflicher ausdrücken: toter Scheiß.

Ich wollte Menschen sehen. In voller Aktion. Oder Kontemplation.
In einem
inneren Konflikt. Verwirrt. In Ekstase oder Trunkenheit.
Landschaften, Tiere
oder Gebäude, wie die Kathedrale von Chartres.
Das ginge auch.

Aber
Stillleben?

Vor zehn Jahren wurde ich im Rijksmuseum in Amsterdam von
meinem hohen Ross gestoßen

In der Gemäldegalerie fiel mein Blick auf ein Gemälde von Willem
Heda
Stillleben mit vergoldetem Becher,
(sechzehn hundert fünf und dreißig)

Es handelt sich um einen Tisch
mit zwei Damast Tischdecken
darauf stehen Zinnschalen mit Austern
einem angebrochenen Laib Brot
Glas und Besteck
sowie eine Zitrone deren Schale in einer Locke herunterhängt.

Unglaublich wie viele Grautöne Heda malen kann.

Der matte Glanz vom Zinn das silbrige Funkeln
vom Humpen und vom Krug

die Reflexion vom Sonnenlicht
durch ein Fenster außerhalb des Sichtfeldes des Gemäldes
auf dem Glas – dem Silber und dem Zinn.
Der Lichtfall auf den Falten vom Damast.

Hier und da Akzente in Gelb und Ocker.
Ich konnte mich nicht satt sehen.

Es war mir ein Rätsel.
Warum habe ich mich plötzlich Hals über Kopf
in ein Gemälde verguckt
auf dem keine lebende Seele zu sehn war?

Warum verlor ich mich in scheinbaren Details
wie der Darstellung von geschliffenem Glas
und fein graviertem Silberbesteck?

Meine Familie drängelte zum Weitergehen.

Ich habe plötzlich verstanden dass ich hier
kein Gemälde mit leblosen Gegenständen anschaute
sondern unübertroffene Meisterschaft.

Ich betrachtete die Person hinter dem Kunstwerk
das Leben von Willem Heda selbst

das jahrelange Üben – die Hingabe – den Dienst an der Kunst.

Willem Heda tauchte in jedem Detail des Gemäldes auf.
Ich war unbändig berührt davon.

Nun darf man Meisterschaft nicht mit Virtuosität verwechseln.

Neben den Stillleben
habe ich auch ein schwieriges Verhältnis zur Virtuosität.

Weil Virtuosität dazu neigt, eitel zu sein,
mit Meisterschaft zu prahlen,
wo eine fast
übermenschliche Technik
den Vorrang
vor Authentizität
bekommt.
Der Künstler steht dann
gewissermaßen

vor

seinem Kunstwerk
und versperrt einem die Sicht.

Schaut mich an.

Wahre Meisterschaft zeigt sich in der Genauigkeit, Sorgfalt und
Hingabe des Künstlers
der hinter seiner Arbeit steht, ohne sich zu verstecken.

In einem meiner Theaterstücke
lasse ich ‚Gwendolyn‘
Folgendes über ihr Pianospiel sagen:

das Instrument gibt den Ton an
man kann’s nicht forcieren schneller zu spielen
man muss üben
jeden Tag von vorne
bis man es kann
sich selbst unterwerfen
sich ergeben
das braucht Zeit
Konzentration
Durchsetzungsvermögen
alles andere hat keinen Sinn
man hat’s nicht in der Hand
es zwingt einen radikal
zu Trägheit
sogar Unterwürfigkeit
Stillstand
(Gwendolyn, in Hoffnung)

Warum schauen wir uns Kunst an?

Um uns selbst in all unserer Zerbrechlichkeit anzuschaun

den Menschen
den lebenden Menschen
mit Stimme und Körper

den Menschen
und seinen Kampf mit dem Leben
das ständige Üben.

Ecce homo.
Seht, der Mensch.

Kunst und auch die Literatur fungieren in diesem Sinne
als eine Art Flugsimulator fürs Leben.

So – wie angehende Piloten das Fliegen
in einem Flugsimulator üben können
können wir ein Leben lang üben
indem wir ins Theater gehn
oder ein Buch lesen:

wir sehen uns selbst
den Menschen und wie wir scheitern oder Erfolg haben.
Das gibt uns Hoffnung
Trost
oder jedenfalls Erkenntnis.

Viele Menschen
umschreiben den intrinsischen Wert
von Kunst
als Ergriffenheit
Vorstellungskraft
Erkenntnis.
Was subjektive Meinungen zu sein scheinen.

Der niederländische Professor für
klinische Neuro Psychologie Eric Scherder
hingegen beschreibt
wie Kunst unser Gehirn an verschiedenen Stellen
stimuliert und es ‚in Bewegung‘ hält.

Beim Betrachten von Kunst entsteht Aktivität
im oberen Hirnstamm:
Eine dickere Großhirnrinde führt auch dazu

dass man
deutlich
besser
denken

sprechen
und
rechnen
kann.

Darüber hinaus kann man viele Informationen auch
räumlich verarbeiten und an den Frontallappen
an der Vorderseite des Gehirns
durchschleusen.

Das sorgt für Kreativität und Flexibilität.
Das ist der intrinsische Wert von Kunst:

dass sie uns ermöglicht uns als Menschen
(und als Gemeinschaft) zu entwickeln.

Gerade darum halten wir die Künste für wichtig.

Wenn wir zuschaun wie sich andere Menschen verhalten
laufen die Spiegelneuronen
in unserem Gehirn auf Hochtouren.

Diese Spiegelneuronen spielen eine Rolle
beim Verstehen und Interpretieren
vom Handeln von anderen.
Wir entwickeln Fähigkeiten
und steigern unser emotionales Einfühlungsvermögen
unseren Spracherwerb und unseren Einblick in Denkmuster von
anderen.

Und im Theater machen wir genau das:
zwei Stunden lang
ganz konzentriert
anderen Menschen zuschaun
sicher – von unserm Platz aus – im Dunkeln.

2.

In den Höhlen von Lascaux findet man wunderschöne
siebzehn tausend Jahre alte Wandgemälde.

Offenbar hat sich der frühe Mensch also mit Kunst beschäftigt.
Aber wurde diese Kunst von professionellen Künstlern geschaffen?

Also, eigentlich schon.
Ich will erklären was ich meine.

Diese Wandgemälde sind gekonnt gemacht alles andere als
Anfängerarbeiten.
Es muss also jemandem
über einen längeren Zeitraum hinweg
Zeit gegeben worden sein
sich mit der Malerei vertraut zu machen.
Meisterschaft zu erlangen.

Das war nur möglich
wenn die Gemeinschaft der Jäger- und Sammler
diese talentierten Maler aus ihrer Mitte
vom Jagen und Sammeln
freigestellt hat

und ihnen Zeit gab
die Kunst der Malerei zu beherrschen.

Diese Künstler mussten sich daher
nicht
um die Nahrungssuche kümmern

sondern konnten sich
dank der Unterstützung durch die Gemeinschaft
der Kunst widmen.

Wenn etwas von der Gemeinschaft unterstützt wird bedeutet das
wahrscheinlich, dass wir es als Gemeinschaft wertschätzen.

Dass dieser Beruf Ansehen hat.
Warum sollte ich mir sonst die Seele aus dem Leib rennen
Gefahr an Leib und Leben riskieren
um an deiner Stelle zu jagen?

Die Felszeichnungen hatten wahrscheinlich eine religiöse Funktion.

Und obwohl die Etymologie des Wortes ‚religio‘ unklar ist
geht der Terminus laut dem römischen Denker Lactantius
auf das Verb religare zurück:

sich wieder verbinden.
Verbindung.

Das ist eine der Funktionen der Künste
auf die ich später nochmal zurückkommen werde.

3.

Angenommen: Du befindest dich auf dem höchsten Berg der Welt
und du darfst mal was ganz laut schrein.

Was schreist du dann?

Die Frage stellen wir als Theaterhaus Het Nieuwstedelijk manchmal
jungen Theatermacher:innen die mit einen Plan für ein Projekt
vorstellig werden.

Meistens antworten sie mit Kraftausdrücken, gern auf Englisch:
Fuck!
Shit!

Wenn man die Frage erneut stellt
in leicht veränderter Form
stellt sich
meistens
Verständnis ein.

Angenommen: Du stehst auf dem höchsten Berg der Welt, und du
darfst mal was
ganz laut schrein – in dem Wissen
dass dich die ganze Welt – einfach jeder Erdbewohner – verstehen
kann
Was schreist du dann?

Ich versus die Welt.

Die Bühne ist nicht der höchste Berg der Welt,
und das Publikum ist nicht die gesamte Erdbevölkerung
aber der Berg kann doch ein Symbol für das Theater sein.

Es geht um Entschiedenheit.

Was hab ich zu erzählen?
Was hab ich zu teilen?
Was ist mein persönliches Verhältnis zur Welt?

Ich muss junge Theatermacher:innen oft
beruhigen
dass das
was sie fasziniert
berührt
aufwühlt
verwundert oder wütend macht
natürlich
auch andere Menschen faszinieren
berühren
aufwühlen
verwundern
oder wütend machen kann.

Dass es also legitim ist einen Standpunkt einzunehmen.
Etwas schön finden zu dürfen. Oder wichtig.

Die amerikanische Theatermacherin Liz LeCompte
künstlerische Leiterin der Wooster Group aus New York hat gesagt
für sie bestehe gutes Theater zu einem Drittel aus Autobiografie
zu einem Drittel aus Chronik und zu einem Drittel aus Form.
Wie ich finde
eine reizvolle Aussage
weil sie die klassische Zweiteilung
Form versus Inhalt
Gut versus Schlecht
in Frage stellt.

Autobiografie, Chronik und Form:
drei Elemente die man auf die Ecken eines Dreiecks verteilen kann
und so ein interessantes Spannungsfeld erzeugen.

Das Dreieck wird dann
zu einer Art Linse durch die man
Kunst betrachten und analysieren kann.

Mit Autobiografie meint LeCompte alles
was Künstler im sprichwörtlichen Rucksack mit sich tragen:
alles was er oder sie erlebt, mitgemacht, gelernt, beobachtet,
entwickelt und gefühlt hat.

Mit Chronik meint sie die Zeit und den Raum
in dem wir uns bewegen
in dem wir leben. Die Gesellschaft
die Epoche
die zeitgenössische Welt.

Durch diese Linse kann man jedes Kunstwerk betrachten
und ein interessantes Gespräch darüber führen.

Wirft man
beispielsweise
die Arbeit von Woody Allen in dieses Dreieck.
Von Pina Bausch, oder Anne Teresa De Keersmaeker.
Von Milo Rau, Bertolt Brecht, Ton Luz, oder Susanne Kennedy.
Liegt deren Arbeit genau im Zentrum vom Brennpunkt?
Oder befindet sie sich eher in einer von den Ecken,
tendiert eher zur Form zur Autobiographie oder zur Chronik?

Kann man auf die Art erkennen
warum eine Arbeit vielleicht hermetisch
egoistisch oder salbungsvoll sein könnte?

Oder warum genau ist sie entschieden, greifbar, relevant und
zugleich bewegend?

4.

Es gibt nicht mehr so viele Orte in der Gesellschaft an denen wir
zwei Stunden
zusammen mit drei- bis vierhundert Menschen verbringen
den gleichen physischen und mentalen Raum teilen, die gleiche Luft
atmen.
Ungestört über ein Thema nachdenken. Es aus verschiedenen
Perspektiven zu betrachten.
Das ist im Theater auch heute noch möglich.

Mein Standpunkt ist
dann lasst uns im Theater am liebsten
über die Dinge sprechen die heute wichtig sind.

Die uns alle gemeinsam betreffen
hier und jetzt.
Für mich kann es im Theater (und in der Kunst im Allgemeinen)
nie
zu sehr
um die Gegenwart gehen. Oder um morgen.

Das Theater wird traditionell als die Kunst des Hier & Jetzt
bezeichnet.
Und dann wird oft von der Wachsamkeit der Spieler gesprochen
vom im Momentum sein. Oder man meint den flüchtigen Charakter
einer Aufführung:
wenn der Vorhang fällt, ist es vorbei.
Für mich geht es nicht nur um diesen flüchtigen Charakter.

Für mich geht es um das Anwesende.
Im Theater kann man nicht abwesend sein.

Abwesend zu sein ist eine Unmöglichkeit im fundamentalen Sinne
die das Wesen des Theaters berührt.

Wenn das Publikum abwesend ist nennt man das keine Aufführung
sondern eine Probe.

Das Anwesende. Was uns betrifft
hier
jetzt
uns alle.

Right here – right now.

Es geht hier um uns.
Seht, der Mensch.

Wir schauen uns selbst in die Augen.
Das ist eigentlich Emmanuel Levinas für Anfänger:
der Appel im Angesicht des Anderen.

Klingt ziemlich christlich
weiß ich.
Ich finde es vor allem
zutiefst menschlich.

Aus dem Theater spricht eine Sehnsucht.
Es ist eine körperliche Sehnsucht
nach körperlicher Präsenz.
It’s a play, stupid, ein Theaterspiel.
You have to play it.
Es muss über die Zunge kommen. Über die Lippen.
Eine Stimme bekommen. Und mit dieser Stimme einen Körper.
Einen Atem.

Le Soufflé.
Nicht umsonst wurde der Text früher
von einem Souffleur
einem Beatmer eingeflüstert.

Es geht also im Wesentlichen ums Leben.
Denn es geht um das physische Zusammensein und darum
was wir dann miteinander teilen können.
Zusammenleben à bout de souffle.

Das Erleben einer gemeinsamen Erfahrung, so wie

zwei Stunden lang
mit vierhundert Menschen
in einem Theater
bewegt und irritiert zu werden

ist entscheidend
für den Erwerb eines gemeinsamen Referenzrahmens
eines Gemeinschaftsgefühls
dem Entstehen von
Zusammenleben.

Gemeinsam etwas er-leben
das wir teilen und er-kennen
ist das was uns verbindet.

Verbindung.
Wissen,
dass man nicht allein ist.

Übrigens gibt es in meiner Muttersprache dem Niederländischen
zwei Worte für Gesellschaft:
Maatschappij und
Samenleving

Ein Wort, das viele der uns umgebenden Sprachen nicht kennen.
Society – société – sociedad
oder eben Gesellschaft
gehen
wie das niederländische Wort „Maatschappij“
auf den „socius“ zurück
den Lateinischen Freund
den Associate – den associé –
den Gesellen.

Maat bedeutet im Niederländischen notabene nicht bloß Freund
sondern auch Norm, Umfang oder Maß.

Jedes Mal scheint dieses Wort
das wir zur Beschreibung unsere Gesellschaft haben
ein statisches, passives und exklusives Wort zu sein.

Wir lassen es so klingen als wäre es unveränderlich
und auf jeden Fall scheint:

wer nicht unser Begleiter oder Freund ist
ist außen vor zu lassen.
Aber im Niederländischen
haben wir auch dieses besondere Wort „Samenleving“
Zusammenleben.

Ein zugleich aktives und inklusives Wort: Zusammen und Leben.
Das Tun (oder die Wahl) zusammen zu leben.
Darüber hinaus schließt das Wort niemanden von vornherein aus.

Man lebt auch mit jemand zusammen
der nicht mein Freund ist
oder die Norm nicht erfüllt.

Ein Zusammenleben lässt darum Raum für die Gegenstimme.

5.

Ich sehe das Theater schon mein Leben lang als einen Ort des
Dialogs
als einen Ort an dem wir zusammen leben
an dem Ideen ausgetauscht werden

und damit als eine Bastion der Demokratie.

Weil das Theater von der Widersprüchlichkeit ausgeht
organisiertem und inszeniertem Konflikt.
Wort und Widerwort.

Wo wir Stimmlosen eine Stimme geben
wie Peter Sellars das ausgedrückt hat.

Das ist für mich auch der Grund
warum es im Theater
um das Heute – das Hier – und das Jetzt gehen muss.
Das was uns jetzt angeht. Uns jetzt beschäftigt. Uns den Atem
raubt.

Ein Schauspielhaus ist ein öffentlicher Raum ein Ort der freien
Meinungsäußerung.

Wir schauen uns unterschiedliche Standpunkte an
versetzen uns in die Worte und Gedanken von anderen.

Wir arbeiten und spielen zusammen.
Das benötigt Vertrauen und Offenheit.
Das rührt an der Demokratie.

Das macht Theater per definitionem
politisch.

Im Theater steht das Gespräch im Mittelpunkt. Zuerst auf der
Bühne
dann im Theatercafé was vielleicht genauso wichtig ist.
Die Kunst auf der Bühne – die Kultur
feiern wir anschließend im Café.

In den letzten Jahren war das schwierig.
Nicht nur die Theater sondern die Künste im Allgemeinen hatten es
in den letzten Jahren schwer.
Nach zehn Jahren mit Einsparungen in Belgien und den
Niederlanden
schlug die Pandemie zu.

Theater schließen,
Vorstellungen absagen,
das Einführen einer Ausgangssperre:
das schien schneller normal zu sein als wir je für möglich gehalten
hätten.

Ins Theater gehen
gemeinsam etwas erleben
die gleiche Luft atmen:
schien plötzlich zu etwas Toxischem geworden.
Physisches Zusammensein quasi unmöglich.

Das Wort Verbindung oder Connection
bedeutete nur noch die Zahl der Balken in unserem 4G-Netz.
In den sozialen Medien werden wir durch Algorithmen in Blasen
getrennt.
Wir schauen niemandem mehr in die Augen.

Der Corona-Sturm ist vorbei.
Aber inzwischen herrscht Krieg –
ein erstes Ziel war das Theater von Mariupol,
erinnern Sie sich?

In diesen dunklen Stunden
müssen wir uns
unbedingt
wieder auf die Suche
nach Verbindung machen.

Schon allein die Suche danach
ist ein großes Gut.

6.

Wir werden geboren
wir wachsen auf
wir gehn zur Schule
wir lieben
wir arbeiten
wir essen
feiern – tanzen – lesen – schreiben.

Wir leben.
Und am Ende sterben auch wir.

Wer sind wir als Mensch? Was sind unsere Werte?

Wie sehen wir die Welt?
Wie beschreiben wir die Welt und
wie stellen wir sie uns vor?

Welche Perspektiven sehen wir und wie teilen wir diese
Perspektiven mit-ein-ander?
Wie leben wir zusammen? Was er-leben wir?

Unsere Geschichten geben dem Leben eine Form.

Dass wir Geschichten erzählen können ist was uns von den Tieren
unterscheidet
was uns zu Menschen macht.

Manche Tiere können sprechen und haben eine eigene Sprache.
Vögel kommunizieren mit ihrem Gesang. Sie sagen: Ich existier
und ich bin hier!

Der Papagei kann uns nachahmen,
das Erdmännchen kann seine Artgenossen
vor Gefahren aller Art warnen.

„Vorsicht, ein Adler!“ klingt bei einem Erdmännchen anders als
„Vorsicht, ein Löwe!“.

Tiere haben ganz bestimmt eine Erinnerung (Elefanten!)
und können existierende Situationen angemessen einschätzen.

Aber sich vorstellen können sich etwas einbilden können?
Sich vorstellen können was passieren kann was eventuell passieren
wird?

Zukunftsaussichten entwickeln. Pläne schmieden.
Ein Weltbild gestalten. Wie wir zusammen leben.

Imagination (Vorstellungskraft). Die Zukunft imaginieren.

Jeden Tag traktiert man uns mit Realitätssinn.

Wer aber nur Realitätssinn
an den Tag legt
sieht bloß was da ist.

Wiewohl, wer über einen Möglichkeitssinn verfügt, auch sieht was
sein kann.

Kunst hat die Kraft den Realitätssinn zu umgehen:
da entsteht dann Möglichkeitssinn.

Nicht nur das was schon da ist
sondern auch das was sein könnte.
Das ist eine Übung in Zukunftsfähigkeit.

Ich sehe Kunst als Motor für die Vorstellungskraft.
Als Weg, um neue Welten zu erschaffen
und radikal neue Verbindungen herzustellen.
Eine Zukunft zu gestalten – sich aus-zu-den-ken
(vor zu stellen).
Kunst kann das Unmögliche möglich, das Undenkbare denkbar, das
Unsichtbare sichtbar machen.
Wir müssen realistisch sein, hat man uns immer gelehrt.

Aber das ist das Schöne an der Vorstellungskraft.
Dass sie einem zeigt
dass die Realität
nicht unveränderlich ist.
Alles könnte anders sein.

Denn wie sollten wir die Welt sonst retten?

7.

Das Leben. Der Mensch und die Welt.
Irgendwann in den 1960-er Jahren
beschrieb Michel Foucault das Theater als ‚Heterotopie‘,
buchstäblich als einen anderen Ort.

Einen Ort an dem das Private das Öffentliche berührt, das
Persönliche das Politische.

Es erinnert mich an das wohl Schönste was auf Niederländisch je
über Theater geschrieben wurde:

Das Theater ist
in der Stadt
die Stadt ist
in der Welt
und die Wände
sind aus Haut.

Das ist ein
in flämischen und niederländischen Theaterkreisen
sehr beliebter Ausspruch
der 2013 verstorbenen Brüsseler Theaterwissenschaftlerin und
Dramaturgin Marianne Van Kerkhoven.

Indem sie das Theater
in Stadt und Welt
positioniert
macht Marianne das Theater politisch

indem sie die Welt als etwas Durchlässiges und Verletzliches mit
Wänden aus Haut benennt
macht sie die Welt menschlich.

Hier-geht’s-um-uns.

Hier und jetzt.

Liebe Leute,

draußen scheint die Sonne.
Und wir sitzen hier drinnen
um über Kunst zu reden.

Wenn wir hier sowieso
zwei Stunden
zusammen in Abgeschiedenheit verbringen

anwesend sind
lassen Sie uns doch über ein Thema
ein Ereignis
ein Problem nachdenken

das uns heute alle zusammen beschäftigt
und darüber
wie sich die Kunst, wie sich das Theater dazu verhalten kann.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

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Übersetzung: Uwe Dethier

UNSER AUTOR: Stijn Devillé, geboren 1974 in Turnhout, ist ein niederländischsprachiger belgischer Dramatiker und Regisseur. Er studierte Romanistik und Theaterwissenschaften an der KU Leuven und der Université d’Avignon, sowie Bühnenregie am RITCS in Brüssel. Er ist Direktor und künstlerischer Leiter von Het nieuwstedelijk, dem Stadttheater von Leuven, Hasselt und Genk, und war Gründer der Leuvener Musiktheaterkompanie Braakland/ZheBilding, die 2015 mit de Queeste fusionierte.