Die Vergangenheit ist immer präsent
Foto: Die Cahoots Musicians in „The Musicians in Bremen live!" © Gorgeous Photography Text:Jörg Vorhaben, am 11. November 2025
Jörg Vorhaben, Schauspiel-Chefdramaturg am Staatstheater Mainz, hat die 63. Ausgabe des Belfast International Arts Festival im Oktober und November besucht. Er berichtet von einer qualitätsreichen und vielfältigen Theaterkunst.
Gerade ging die 63. Ausgabe des Belfast International Arts Festival zu Ende. Fast vier Wochen lang war ein volles Programm, das Theater, Tanz, Konzerte, Lesungen und Ausstellungen beinhaltete, zu sehen. Die Veranstaltungen waren über die ganze Stadt in den verschiedensten Kulturinstitutionen verteilt. Zum Teil fanden sie aber auch an ungewöhnlichen Orten statt: So hatte beispielsweise die Theatergruppe Cahoots, die vor allem auf Theater für Kinder spezialisiert ist, eine temporäre Spielstätte in einer ehemaligen Woolworth-Filiale im Cityside Retail Park Shopping-Center errichtet. Schon der Weg im Gebäude zur Spielstätte war ein spannendes Abenteuer und vor dem „Theatersaal“ erwartete die Kinder ein Raum, der zum Verweilen und zu eigenen Aktionen einlud.
Spartenübergreifende Arbeiten an ungewöhnlichen Orten
Aufgeführt wurde „The Musicians of Bremen Live!“, eine mitreißende musikalische Revue mit Jazz, Blues und Musical Songs, die sich sehr frei mit dem bekannten Märchenstoff der „Bremer Stadtmusikanten“ beschäftigt. Es ist eine Koproduktion mit dem Segerstrom Center for the Arts, Kalifornien, weshalb die Geschichte auch in Amerika spielt. Dort gibt es ja auch ein Bremen. Der Zusammenhalt der vier Tiere steht im Vordergrund, und das war an diesem Ort auch wichtig: Das Shopping-Center steht genau zwischen einem protestantischen und einem katholischen Viertel und der Friedensprozess war in vielen Produktionen des Festivals ein zentrales Thema.
Dies gilt auch für die Tanzvorstellung „My Grandfather’s House“ vom Dylan Quinn Dance Theatre. Diese Vorstellung ist ein Solo, für das Dylan Quinn das Wohnzimmer seines Großvaters originalgetreu nachgebaut hat. Im Flur des Hauses musste man als Gast seine Jacke aufhängen und durfte im Wohnzimmer auf dem Sofa oder dem Sessel Platz nehmen. Jede Vorstellung war jeweils nur für vier Zuschauer:innen zugänglich. Dylan Quinn, 1974 geboren, tanzt und erzählt in dem Stück von seinem Großvater, aber auch davon, wie es für ihn war, in Enniskillen aufzuwachsen. Man taucht mit ihm in sein analoges Leben ein; etwa indem man zur Dschungelbuch Elefantenparade durch das Haus marschiert, per Diashow von den Urlauben oder per VHS-Recorder von Schulfeiern Eindrücke gewinnt. Immer wieder erfährt man sehr persönlich, wie sich die Troubles in Nordirland auf die Bevölkerung ausgewirkt haben und wie präsent die Wunden noch immer sind. Eine Vorstellung, die emotional sehr berührt.
Die Troubles sind auch der Hintergrund der Work-in-progress Präsentation „BPM: Barneys, Parties and Melters“ von Off THE RAILS DANCE (Ch.: Eileen McClory), in der es um die Rave-Szene der 90er Jahre in Nordirland geht – eine Szene, in der man sich unabhängig der politischen Lager traf. Der dort erfahrene Zusammenhalt trug auch zum Gelingen des Friedenprozesses bei. Die Tanzsequenzen von „BPM“ sind immer wieder mit Original Film- und Tonaufzeichnungen unterlegt, diese vermitteln den zeitlichen und politischen Kontext. Die Produktion wird 2026 Premiere haben.
Der Tanz steht bemerkenswert oft im Vordergrund
In der diesjährigen Festivalausgabe spielte der Tanz eine besondere Rolle. Es gab nicht nur mit Michael McEvoy einen Choreografen als Artist in Residence, sondern mit „Our voice together now“ ein länderübergreifendes Projekt. Hierfür hat sich das Belfast International Arts Festival mit Orient Productions (Ägypten) und Sareyyet Ramallah (Palästina) zusammengetan, um es drei Choreograf:innen aus den drei Ländern zu ermöglichen, mit Tänzer:innen aus den jeweils anderen Ländern eine neue Arbeit zu entwickeln.
Auch „Everynothing“ von der palästinensischen Choreografin Salma Atayazu war auf dem Festival zu sehen. Drei nordirische Tänzer:innen suchen in diesem Stück nach Momenten der Stille und Klarheit in einer unbeständigen Welt, die niemals stillsteht. Sie erforschen, was es bedeutet, wachsam und dennoch gelassen zu bleiben, sich in Bewegung auszuruhen und Raum zu finden, wo keiner vorhanden ist. Im nächsten Jahr sollen auch die beiden anderen Produktionen, die in Kairo und Ramallah schon entstanden sind, beziehungsweise noch entstehen werden, zu sehen sein. Aber ob dies möglich sein wird, hängt davon ab, ob die Tänzer:innen überhaupt ausreisen dürfen.
„Everynothing“ wurde jetzt als Doppelabend mit „The Fallen“, einem Solo von und mit Michael McEvoy, gezeigt. „The Fallen“ erzählt die Geschichte der vergessenen Feen Irlands: Der letzte Elf wurde von einem sterblichen König christlichen Glaubens gefangen genommen und zum Vergnügen gehängt. Da er nicht sterben konnte, wurden ihm seine Flügel genommen und er wurde begraben. Mit poetischen Bewegungen erkundet Michael McEvoy einen flügellosen Engel, der in einem Gefängnis aus zerbrochenen Erinnerungen und neu entdeckter Sterblichkeit gefangen ist.
Klassisches Schauspiel
Es gab aber auch ganz klassische Theaterstücke zu sehen. Der Ort fürs Sprechtheater war das wunderschöne Lyric Theatre mit seinen zwei Sälen. Dort war mit „Denouement“ ein neues Stück von John Morton zu sehen: Kurz vor Armageddon 2048 zerfleischt sich ein Ehepaar und deckt seine gegenseitigen Lebenslügen auf. In einem absolut aufwendigen, realistischen Bühnenbild, das einen Schuppen zeigte, in dem sich das Paar verschanzt hatte, lieferten sich die beiden Spieler:innen ein intensives Gefecht, konnten aber leider trotz ihrer Schauspielkunst nicht über den eher schwachen Text hinwegtäuschen.
Diese Festivalausgabe war die letzte Ausgabe unter der Leitung von Richard Wakely, der sich sehr für das nordirische Theater und vor allem dem Tanz eingesetzt hat. Es wird spannend zu sehen, wie es nächstes Jahr weitergehen wird.