„Aurora Negra“ beim Festival Adelante in Heidelberg

Fremde Energie für uns

Zum dritten Mal fand das iberoamerikanische Theaterfestival ¡Adelante! am Theater und Orchester Heidelberg statt. Das Programm gab dem Kampf um Diversität und Autonomie Raum – und zeigte damit seine Wirksamkeit nicht nur in fremden Ländern.

Der Paukenschlag war schon am ersten Abend des Festivals unüberhörbar: Drei schwarze Frauen (Cleo Diára, Isabél Zuaa, Nádia Yracema) halten den Zuschauer:innen mit Verve den Spiegel ihrer westlichen Vorurteile entgegen. Sie wiederholen all die frivol-peinlichen Zuschreibungen und Fragen, die man an sie richtet, nachdem sie in der ‚weißen‘ Mehrheitsgesellschaft Portugals angekommen sind. Verleugnen wollen sie ihre Herkunft trotzdem nicht. Im Gegenteil, über ihnen hängt eine gigantische Stammesmaske, zudem eröffnen sie die Aufführung mit traditionellen, teils kreolischen Gesängen. Dass man in dieser deutschsprachigen Erstaufführung von „Aurora Negra“ (Schwarze Morgenröte) viele persönliche Geschichten und Anklagen vernimmt, verleiht ihr eine proklamatorische Note. Das geht allerdings auf Kosten des Theaterereignisses als solchem, das kaum mit besonderen Bildern oder ausgefallenem Spiel aufwartet.

Unmittelbare politische Setzungen

Doch erweist sich diese durch und durch politische Setzung als gewollt. Während hierzulande im Schatten des erstarkenden Rechtspopulismus Ängste vor Überfremdung kursieren und zunehmend die pluralistische Gemeinschaft infrage gestellt wird, will man bei der mittlerweile  dritten Auflage des Festivals in Heidelberg gezielt und mit radikalen Entwürfen aus zehn Nationen wachrütteln. Immer wieder geht es in den eingeladenen Stücken um Erfahrungen von Unterdrückung und Ausgrenzung. So ebenfalls in dem Monolog „Soliloquio“ des Performers Tiziano Cruz. Als Teil der nordargentinischen Indigenen haben sich die Diskriminierungen durch die kulturelle Mehrheit tief seiner Seele eingebrannt. Der Anpassungsdruck führte hinein in eine beklemmende Identitätskrise, weswegen das Anziehen des Shirts mit dem Aufdruck „Das ist nicht mein Leben“ nur allzu passend anmutet. Gegen wen richtet sich die Kritik des Aktivisten? Insbesondere zielt sie neben den Regierenden auf den Kulturbetrieb seines Landes. Indem dieser sich von jenen finanzieren ließe, die Träume von einer ethnischen Uniformität hegen, würden seine Künstler selbst zu Kollaborateur:innen einer „Ökonomie der Gewalt“. Am Ende fließt Blut die hintere Leinwand hinunter. Zwar spart auch diese Inszenierung nicht an sozialkritischen Reden, dargebotenen in einem bisweilen parlamentarischen Gestus, gleichwohl überzeugt sie vollends durch den hohen Grad an Authentizität. Hier spricht sich ein Künstler buchstäblich frei, von all den Fesseln, die man ihm und seiner Familie angelegt hat.

Dafür gibt er alles preis, was ihn ausmacht. Er öffnet sich, gibt Einblicke in innere Verletzungen. Ähnlich wie in „Aurora Negro“, in dem eine der Spieler:innen mehrfach barbusig zu sehen ist, präsentiert sich Cruz nur in Unterhose und einmal sogar ganz nackt. In diesen Momenten fällt letztlich die vierte Wand. Einzig und allein der Mensch tritt hier in seiner puren Wesenhaftigkeit zum Vorschein. Was sich hinter diesen Akten verbirgt, lässt sich möglicherweise am ehesten als Widerstand gegen das Regime der Täuschung, Propaganda und Unterwerfung begreifen. Paradoxerweise wird der Illusionsraum der Bühne zum Ort der Wahrheit, einem Forum, auf dem falsche Klischees und der Zwang zur Assimilation und Selbstaufgabe keinen Platz mehr haben.

Nacktheit als vielschichtiges Kunstmittel

Nacktszenen gibt es überdies auch in der mexikanischen Inszenierung von Víctor Hernández, „Ese Boker en el campo del dolor“ (Boker im gelobten Land des Leids), die das mutige Festival abschließt. Hier nur mit gänzlich anderem Impetus. Eingebettet in eine provokative Gesellschaftssatire auf eine zwischen Kleinkriminalität, korrumpierter Politik und archaischer Spiritualität zerrissenen Nation, dienen sie diesmal als Gegenwehr. Männer schwingen in Frauenkleidern ihren Penis hin und her oder kopulieren als verkleidete Militärs wie Tiere miteinander. In dieser mit schrillen Tanz-Intermezzi bestückten Inszenierungen erscheinen die Soldaten noch als Karikaturen, im realen Leben hingegen als hart agierende Cops gegen Jugendliche, denen der Handel mit Drogen zur letzten Überlebensoption geworden ist.
Dass es bei dem Festival Adelante nicht allein um die Durchbrechung der Grenzen zwischen Kulturen und Hautfarben geht, lässt sich mitunter an einem rebellischen Aufbegehren der Schauspielerin Samantha Chavira gegen überkommene Geschlechterrollen studieren. Nach einer Szene in „Ese Boker en el campo del dolor“ aus Mexiko über die aberwitzige Begegnung des umstrittenen Präsidenten Calle mit einer mystischen Gestalt steht für sie fest: Sie hat es satt, solcherlei Polit-Fratzen oder „irgendeine Schlampe“ zu mimen, die „wieder die Scheiße wegwischen muss“.

Diversität, so das Fazit dieses durchweg leidenschaftlichen Aufführungsreigens, ist keine Theorie, sondern gelebte Praxis. Das Theater nimmt alle Vorhänge ab und lenkt unseren Blick auf die pure Existenz. Manches aus von bisweilen massiven politischen Verwerfungen geprägten Kulturräumen mag uns noch entfernt erscheinen. Doch wie stabil und tragfähig sind die Menschenrechte noch bei uns? Wie vielfältig wird unser Zusammenleben noch in Zukunft sein? Das Festival ¡Adelante! versteht sich keineswegs als Fanal. Unbestreitbar ist jedoch der Appell an uns, zur verstärkten Wachsamkeit!