Ostdeutsche Spitzen

Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat ein Dossier zur Theaterarbeit in Ostdeutschland veröffentlicht: „Zukunft erproben” untersucht die Repräsentation von Ostdeutschen in der künstlerischen Leitung von Theaterhäusern. Die Datenbasis bezieht sich auf die aktuelle Spielzeit 2023/2024 – und zeigt die Unterrepräsentation vor allem in großen Häusern.

Nur 25 von 161 künstlerischen Leitern an 147 erfassten Theatern stammen in der aktuellen Spielzeit 2023/24 aus dem Osten. Je größer die Stadt oder die Bühne, desto rarer ist diese Spezies. Und das auch in den so genannten neuen Bundesländern.

Fünf westdeutsche Bundesländer verzichten ganz und gar auf Ostdeutsche an der Spitze, in fünf weiteren hat sich je eine/r durchgesetzt, nur Nordrhein-Westfalen leistet sich derer zwei – unter 32 Posten. Im Osten hält nur Sachsen (acht von 14) einen Vorsprung. Im vereinigten Berlin gibt es nur eine Ausnahme unter den 13 öffentlich geförderten Institutionen, von denen immerhin neun in Ostberlin liegen: als geteilte Spitze am Kindertheater an der Parkaue. Und all das vor dem Hintergrund von knapp 20 Prozent Bevölkerungsanteil Ostdeutscher im Bundesgebiet.

Die Zahlen stammen aus der Studie „Zukunft erproben. Theaterarbeit in Ostdeutschland: Impulse für eine gesellschaftspolitische Debatte“, die Franziska Richter gemeinsam mit Therese Schmidt und Dr. Peggy Mädler als ein 180-Seiten-Dossier im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt haben. Die beinhaltet einerseits gelungenen Lesestoff, zeigt andererseits die Ungerechtigkeit und Intransparenz bei Besetzungen. Das Damentrio – homogen ostdeutscher Herkunft – präsentierte das Werk am 8. November in Berlin, wobei man an den zahlreichen Abwesenden der ersten Stadtliga die Relevanz des Themas messen konnte.

Die Präsentation im Berliner Chamäleontheater

Dennoch war der Saal im Ostberliner Chamäleontheater prall gefüllt und Theaterchefin Anke Politz als Gastgeberin dieses historischen Saales in den Hackeschen Höfen ebenso gefragt wie Peggy Mädler, die einen detaillierten Essay über die Besonderheit der Berliner Szene beitrug.

Die 700 gedruckten Bücher der ersten Auflage enthalten neben grundlegenden Beiträgen etliche Gespräche und Diskurse als erhellende wie persönliche Betrachtungen. Hauptaugenmerk genießt die Herkunft qua Geburt der künstlerisch Leitenden: 136 „ungeteilten Intendanzen“ stehen 25 Personen in Doppel- oder Dreierleitung gegenüber, davon sind 40 (also ein Viertel) Frauen, davon aber acht aus dem Osten – also genau ein Fünftel.

Geburtstort als bestimmendes Merkmal

Aufgrund der Vergleichbarkeit mit anderen Studien wird der Geburtsort als bestimmendes Merkmal herangezogen, der derzeit die soziologische Elitenforschung dominiert – denn Wohnort, Sozialisation oder gar die Selbstbezeichnung als weitere mögliche Merkmale sind wesentlich aufwendiger zu erfassen und oft auch nicht so klar.

Das mag Theaterleute verwundern, aber eine unerkannte Ursache sind Netzwerke, die gern unter sich bleiben und in der bundesdeutschen Kulturbranche durchaus noch üblicher sind als anderswo.

Dabei unterschieden die Autorinnen nicht nur Bundesländer, sondern auch Theatergröße und Einwohnerzahl, um den Trend zu verstärken: Nur eines der 32 großen Theaterhäuser mit über 1000 Plätzen ist in ostdeutscher Hand (Tilman Gersch, seit 2015 Intendant im Theater im Pfalzbau Ludwigshafen), sieben aber in solchen internationaler Herkunft. Alle fünf Großstadttheater, denen ein Ostdeutscher vorsteht, sind im Osten gelegen, darunter drei Kinder- und Jugendtheater. Der Trend ist klar erkennbar: je unwichtiger, je ostdeutscher – je relevanter je westdeutscher. In der Bilanz stehen also 5,6 Prozent an Ost-West-Transfer versus 38,9 Prozent der gegenteiligen Richtung.

Das Podium zur Vorstellung

Zur Vorstellung kam mit Carsten Schneider auch der Ostbeauftragte der Bundesregierung und saß mit fünf Theatermachern auf der Bühne. Gefragtester Mann war allerdings Hasko Weber, Dresdner des Jahrgangs 1963, der mit seiner Dramatischen Brigade 1989 einen historischen Schweigemarsch am 7. Oktober in Karl-Marx-Stadt organisierte. Er ist einer von neun befragten ostdeutschen Theaterchefs der Studie, war Schauspielintendant am Staatstheater Stuttgart und ist derzeit Generalintendant am Weimarer Nationaltheater sowie Vorsitzender der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins.

Er lenkte den Fokus vom Glamour auf die Arbeit: Er kenne niemanden, der den Job eines Generalintendanten machen wolle und gab die Komplexität, die vielfältigen Anforderungen und politischen Befrachtungen als Grund an. Ebenso bemerkenswert war der Beitrag von Dr. Torben Ibs, der die Schizophrenie zwischen im Westen gefeierter DDR-Avantgarde und beispielhafter Gesundschrumpfung der Wendezeit beschreibt: Zwischen 1992 und 2011 gab es insgesamt neun Theater- und 19 Orchesterfusionen – allesamt aus vermeintlichen Spargründen. Vierzig Prozent der DDR-Intendanzen wurden schon von 1990 bis 1995 mit „Westimporten“ besetzt.

Systemische Betrachtung der Zahlen

Wie es anders geht, zeigt bei gesamtgesellschaftlicher, also systemischer Betrachtung Militär (0,0 Prozent) oder Politik (20,9 Prozent) als bipolare Antipoden – bei rund einem Fünftel Anteil von Ostdeutschen an der Bevölkerung. Aber auch in Wissenschaft und Medien liegt die Quote wie bei der Kultur derzeit bei rund acht Prozent, wie der von Schneider arg geförderte und gemeinsam in Leipzig, Jena und Görlitz erforschte „Elitenmonitor 2022 – 2025“ im September offenbarte.

Nachhaltiger Sinn dieser verdienstvollen wie lesenswerten Bestandsaufnahme, ergäbe sich allerdings erst, wenn ein Trend ablesbar wird, also die Analyse in regelmäßigen Abständen wiederholt würde. Geht es nach Franziska Richter, dann würde sich eine Wiederholung schon nach drei Jahren lohnen. Wenn man die reinen Daten zudem jährlich erhöbe, wäre zusätzlich alsbald auch eine Auswertung nach unterschiedlichen Dienstzeiten möglich. Das Geburtsjahr und das Eintrittsalter an die Spitze, welches zudem einen Fokus für Unterschiede bei der Stufendauer auf der Karriereleiter ermöglichen würde, zu erfassen, hält auch Richter für spannend. Denn noch sind alle Theaterchefs vor dem Ende der DDR geboren. Aber nun geht es ihr erst einmal um eine weitestmögliche Reflektion des Werkes und die Sensibilisierung für das Problem. Daher wird man noch einiges hören, um dem Untertitel gerecht zu werden.

Die Sache mit der Frauenquote

Zwei Nebeneffekte hat das Werk: Frauen sind im Osten immer noch gleichberechtigt – auch bei der Diskriminierung qua Herkunft. Und die Ostbundesländer sind in Sachen Theaterspitzenfachkräfte internationaler aufgestellt, was die Westdeutschen als Appell verstehen könnten: Sachsen-Anhalt und Thüringen haben je vier Internationale am Start – liegen also dort vor Ostdeutschen (je 3) und Westdeutschen (je 2).

Allerdings bräuchte es bei jedweder Quotenforderung, die sich ja zwangsläufig in die Diskussion schleichen wird, grundsätzlich immer den Rekurs auf die jeweilige Grundgesamtheit (an Theatervolk aktiver wie passiver Art), die in jedem Einzugsgebiet anders sein dürfte. Doch dies ist dann Aufgabe der Träger und deren Kontrollinstanzen vor Ort, die nun über eine erste Handhabe verfügen.