Liebespaar mit barocker Gestik: Maria Ladurner und Philipp Mathmann als weibliche und männliche Seele in „L'Huomo“ von Andrea Bernasconi

Die Tage Alter Musik in Herne

Die 46. Tage Alter Musik in Herne begeisterten mit wiederentdeckten, teilweise sogar erstmals zu erlebenden Musiktheaterwerken und -konzepten.

 

Natürlich. Eigentlich sind die Tage Alter Musik kein Theater-, sondern ein Konzertfestival, veranstaltet in Kooperation vom Westdeutschen Rundfunk und der Stadt Herne. Seit 1976 verschreibt man sich hier einmal im Jahr vier Tage lang der Musik vom Mittelalter bis Mozart (mit gelegentlichen Ausritten in modernere Zeiten) und geht dabei jedes Jahr von einer thematischen Setzung aus. Für 2022 lautete dieses Motto „Tragisch – Komisch“.

Jedes Jahr gibt es neun Veranstaltungen und eine Messe mit alten Musikinstrumenten. Diese findet im Foyer des Herner Kulturzentrums statt, in dessen Saal sich alle Mittags- und Abendveranstaltungen ereignen. Nachmittags wird in der fussläufig entfernten Kreuzkirche musiziert, die für eine nahezu perfekte Akustik für alte Musik verfügt: trocken, aber ohne Schärfen, dafür sogar mit etwas „Restwärme“. Dazu gibt es jedes Jahr ein Late-Night-Special in der Künstlerzeche Unser Fritz 2/3.

Was treibt nun den Theaterkritiker auf dieses Konzertfestival? Zunächst einmal begeistert er sich an der Stimmung während der einzelnen Veranstaltungen. Die Alte-Musik-Szene ist ja generell bekannt für ihr leidenschaftliches und diszipliniertes Publikum. In Herne wird, warum auch immer, besonders entspannt und intensiv zugehört und mitgelebt. Da bekommen die Künstler:innen wirklich etwas zurück. Und nicht wenige sind erstaunt darüber.

Neue alte Stücke

Zudem gab es dieses Jahr für den neugierigen Theaterfolger sehr viel zu entdecken. So führten etwa die Ensembles Musica Fiata und La Capella Ducale unter Roland Wilson „Pia et fortis mulier“ auf, ein von Johann Caspar Kerll 1677 komponiertes Jesuitendrama, das dankenswerter Weise nicht in seiner Originalgestalt aufgeführt wurde. Die dialoglastigen fünf Stunden wären selbst für das Herner Publikum schwer zu stemmen gewesen. Die Tage Alter Musik beauftragten eine Übersetzung, kürzten dramaturgisch geschickt und die WDR-Sprecherin Regina Münch sorgte mit, vielleicht etwas sachlich, gesprochenen Verbindungstexten für die Vermittlung der Handlung. In deren Mittelpunkt steht eine fanatische Märtyrer-Gattin. Als es so scheint, als würde ihr Gatte doch nicht den avisierten Foltertod erleiden (wollen), wird sie aus der Bahn geworfen, was der auf der Foltererseite stehende Tribun Flavius für sich nutzen möchte. Sein Vertrauter Dorilus hält als Intrigant das dramatische Schwungrad am Laufen bis zum Märtyrer-Happy-End (totes Paar). Die Sänger:innen von La Capella Ducale erwiesen sich als hervorragende und vor allem ironiefähige Dialogsprecher:innen. Der Gesang blieb den Ausritten in die antike Mythologie an den fünf Aktenden vorbehalten und wurde großartig umgesetzt: hochmusikalisch, feinfühlig, sinnlich geschmackvoll.

Diese Attribute lassen sich ohne jeden Abstrich auch auf die Performance von Concerto Romano in der Kreuzkirche anwenden. Sie widmen sich in erster Linie römischer Musik aus dem 17. Jahrhundert. Das zentrale Stück ihres Konzerts, „La Caduta degli Angeli“ von Francesco Rossi beshäftigt sich mit Luzifers Fall. Gott singt Tenor und die Engel Sopran – bis zum Sturz. Dann hat Luzifer eine Bassstimme, was auf alte Comedy-Weise charmant dargebracht wird: Die Sängerin bewegt den Mund, der Sänger singt aus dem Hintergrund. Auch in diesem von Alessandro Quarta geleiteten mitreißendem Konzert verbinden sich Ironie und Leidenschaft auf das Schönste.

Drittes Beispiel: „L’Huomo“ von Andrea Bernasconi, nach einem französischen Originallibretto von Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, in deren Theater die Oper 1754 auch uraufgeführt wurde. Dorothee Oberlinger hat das unbekannte Werk, dessen Partitur voller Effekte steckt, mit eigens zusammengestellten Solist:innen und ihrem Ensemble 1700 einstudiert, Niels Niemann hat mit den Sängern barocke Gestik und rudimentäre szenische Darstellung erarbeitet. Dazu wird ein wenig mit Kostümen, Requisiten und Licht gespielt. So entstehen ironische Momente auf andere, ganz eigentümliche Weise.

Die dramatische Substanz freisetzen

Bei keiner der drei Veranstaltungen scheint „Konzert“ das richtige Label zu sein, auch wenn es sich formal um konzertante Aufführungen von Oper oder Oratorium handelt. Durch das gelebte Miteinander des Musizierens, das intensive Zuhören, die selbstverständliche und sensible Interaktion wird bei allen drei Events die dramatische Substanz der Stücke befreit und kann Ereignis werden. Es findet also lebendiges Theater statt, und das ohne Ausstattung und explizite Inszenierung. Dabei sind die äußeren Reize naturgemäß eher subtil, weniger üppig als im Theater gewohnt, muss der Zuschauer und -hörer viel Offenheit mitbringen, bereit sein, unbekannte Wege zu gehen und differenziert zu hören.

Dann öffnet sich jedoch eine schöne neue (alte) Welt nach der anderen. Ob es nun die unvergesslichen Violinentöne in „Pia et fortis mulier“ sind, die wilden rhythmischen Ausritte, die Percussions-Effekte und die honigsüßen Melodien in „L’Huomo“ oder das dynamische, stets ganz spontan wirkende Lautenspiel in „Caduta degli Angeli“. Und man begegnet ständig kostbaren und vor allem gesunden Singstimmen, die sich den in großen Häusern oft geforderten Scharmützeln um Durchschlagskraft wohl schlicht nicht stellen und sich so individuelle Stimmfarben und Ausdrucksspektren bewahrt haben, die sie in der Regel auch noch uneitel, im besten Sinne werktreu einsetzen. Unter vielen anderen sorgten auf diese Weise Marie Luise Werneburg und besonders Hanna Zumsande, Sopranistinnen bei La Capella Ducale für besondere vokale Wonnen wie der Tenor Luca Cervoni und der Bass Lorenzo Tosi bei Concerto Romano oder Maria Ladurner als weibliche Seele und Francesca Benitez als guter Geist im „L’Huomo“-Ensemble.

Applaus wurde üppig gespendet am Ende aller drei Veranstaltungen, es wurden Zugaben improvisiert. Vor allem. Man geht erhoben aus dem Saal und freut sich auf Austausch. Auch in dieser Hinsicht bekommt man bei den Tagen Alter Musik: vorbildhaftes Musiktheater. Ich werde wieder hinfahren.

Juliane Schubert als fanatische Märtyrer-Gattin Natalia in dem Jesuitendrama „Pia et fortis mulier“ von Johann Caspar Kerll

Juliane Schubert als fanatische Märtyrer-wilde Natalia in „Pia et fortis mulier“ von Johann Caspar Kerll © WDR/Thomas Kost