Les Lunaisiens, merd' v'la l'hiver

CD: Les Lunaisiens

Eigentlich wollen wir in dieser Rubrik ausschließlich theaternahe Medien besprechen, CDs, DVDs, Bücher oder Ausstellungen, die direkt mit einer Aufführung, einem Ereignis, einem Theatermenschen oder einer Strömung der Theatergeschichte verbunden sind. Diese CD ist all das nicht. Sie ist sozusagen Beifang und fiel mir in die Hände, als ich nach neuen Opern-Aufnahmen Ausschau hielt. Ich habe reingehört und war gefangen.

„Merd v’la l’hiver“ ist an einer der entscheidenden Wasserscheiden der Musikgeschichte angesiedelt. Bekanntlich wurde das, was immer einfach „Musik“ war, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach und nach in „U“ und „E“ diversifiziert. Spätestens mit der Etablierung des Rock’n Roll kann man diesen Vorgang vermutlich als abgeschlossen betrachten. Aber es gibt viele Vorstufen: Walzer, Ragtime, Revue-Schlager, Dixieland…

Soziale Ungerechtigkeit, unglückliche Liebe, Winter

In Frankreich entstand in dieser Zeit das Chanson. Und Arnaud Mazorati und das großartige Septett Les Lunaisiens verlebendigen gleichsam diesen Prozess. Sie haben vorher bereits Boris Vian und Georges Brassens CD-Projekte gewidmet, kennen sich also mit der Entwicklung französischer Populärkultur ausgezeichnet aus. Hier erleben wir nun, so der Untertitel der CD, „Complaints des gens de Rue“ („Beschwerden des Straßenvolks“). Es geht gegen den Winter, in dem es bekanntlich kalt ist, gegen die soziale Ungerechtigkeit. Es geht um unglückliche Liebe, um Chancenlosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Man schmeckt noch das Mittelalter durch, die mündliche Überlieferung von Straßensänger zu Straßensänger; das 19. Jahrhundert, das ja auch eine Zeit großer Verelendung war, und in der sich, oft auch aus finanzieller Not, eine „Bohème“ etablierte. Man kennt das aus Baudelaires „Fleur du mal“, aus „Scenes de la vie de Bohème“, der Romanvorlage für Puccinis berühmte Oper, ansatzweise auch aus Gustave Charpentiers Oper „Louise“.

Drehleier, Dudelsack, starke Stimmen

Wie bereits erwähnt sind Les Lunaisiens sieben Musiker. Geige und Harfe sind aus der klassisch-romantischen Musikwelt dabei, Akkordeon und, besonders, Leierkasten, sorgen für ein französisches „Straßengefühl“, Drehleier und Dudelsack sind für die archaische Perspektive zuständig, das Schlagwerk ist es für die heutige – und die Flöte überstrahlt alles und setzt viele absurde Pointen. Das Gesamtergebnis ist ein Klangfarbenfeuerwerk in vielfältigster Rhythmik, mit einer so elegischen wie mitreißenden Melodik, in der die Chansons von Edith Piaf, Leo Ferrer oder Yves Montand deutlich vorgeprägt scheinen. Die Komponistinnen und Komponisten (tatsächlich waren übrigens damals in der Regel Frauen die führenden Straßensänger von Paris) sind nicht sehr bekannt, aber einige Stücke, etwa das „Complainte de paillasse“ oder „Les nocturnes“ haken sich unmittelbar im Ohr fest. Und das auch, weil toll gesungen wird. Da ist der Dirigent Arnaud Marzorati selber dabei, oft eher skandierend, deklamierend als im engeren Sinne singend. Der Choeur de femmes Audomaria de Saint-Omer lässt frische, attraktive Stimmen in wunderschönem Zusammenklang hören. Und dann ist da Stephanie d’Oustrac, die wohl im Moment prominenteste französische Mezzosopranistin, immer wieder, unter anderem auch in Köln, als Carmen gefeiert (im Juni gastiert sie in „Dialogues de Carmélites an der Bayerischen Staatsoper). Sie singt – nicht wie eine Opernsängerin. Aber auch nicht wie eine Chansonette oder Diseuse. D’Oustrac singt hier wie jemand, der das Singen nicht gelernt hat. Es aber kann. Wie mit einer Naturstimme, die durchdringen will und muss, um zu überleben.

„Merd‘ v’la L’Hiver“ ist ein sehr schwer zu beschreibendes Album und dennoch (oder gerade deshalb) ein sehr großer Genuss. Hier wird ein musikhistorischer Prozess veranschaulicht und einfach entfesselt und berührend musiziert.

Das Album ist am 4. November 2022 beim belgischen Label Alpha Classics erschienen. Die CD ist physisch im Handel erhältlich und kann HIER gestreamt werden. Einen kleinen Ausschnitt gibt es HIER.